Sie war fünfzehn als sie ihre Heimat verließ. Zwei Jahre vor dem Mauerbau hatte sich ihre Mutter schließlich dazu durchgerungen, dass die Familie aus der DDR fliehen müsse. "Auch wenn sich der
Abschied aus meiner gewohnten Welt zunächst wie eine Reise ins Abenteuer anfühlte, muss ich geahnt haben, dass sich hier das Kapitel meiner Kindheit schloss", erinnert sich Christine Brinck an
den Tag, an dem sie mit ihrer älteren Schwester von Schwerin nach Berlin reiste, um dort auf Mutter und Bruder zu warten und schließlich gemeinsam ins Notaufnahmelager in Marienfelde zu fahren.
"Marienfelde habe ich als riesig in Erinnerung, endlos viele Gebäude, große Grünflächen. Die Sonne schien, und überall saßen Familien auf Bänken, manche lagen auch auf dem Rasen. In den
Sommermonaten kamen Tausende, jeden Tag." Aus dem Lager gelangte Brinck schließlich zu Verwandten nach Hamburg, beendete hier die Schule, studierte und begann später eine Karriere als
Journalistin.
Rückblick nach 49 Jahren
49 Jahre nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 blickt sie zurück und erzählt über "eine Kindheit in vormaurischer Zeit". "Kindheit in der DDR bestand freilich nicht nur aus Spiel, Sport
und Familienglück", erinnert sich Brinck. "Es herrschte stets auch eine diffuse Angst." Diese galt zunächst den russischen Soldaten, die kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs in Schwerin einzogen,
und später den Spitzeln der Stasi oder gar den eigenen Nachbarn.
"Außerhalb des Hauses war ich immer darauf bedacht, kein Misstrauen aufkommen zu lassen und ja nicht das Falsche zu sagen." Doch auch innerhalb des Hauses lauerte Gefahr: Da Brincks Mutter
sich entschieden hatte, eine Art Internat für Auswärtige zu eröffnen, die in Schwerin zur Schule gingen, wechselten die Bewohner regelmäßig. Dass darunter auch der eine oder andere "inoffizielle
Mitarbeiter" war, erfuhr Brinck erst als sie nach der "Wende" ihre Stasi-Akte las: "Hat man erst mal die Starre überwunden, die einen befällt, wenn man Jahre und gar Jahrzehnte später von diesen
Eindringlingen erfährt, dann beginnt man staunend zu lesen und denkt sich, in welch grauenvoller Welt man damals gelebt hat!"
Fünf Kindheiten plus eine
In neun Kapiteln erzählt Christine Brinck episodenhaft über ihr Aufwachsen in der DDR. Sie beschreibt ihren Schulalltag ("Wir konnten lügen und uns verstellen, den Lehrern nach dem Mund
reden und doch eine unschuldige Frage stellen, in die wir unser Wissen aus dem Westradio unauffällig einbauten."), die Kirche als Zufluchtsort ("Der Jugendkreis war unsere Heimat, dort waren wir
unter Gleichgesinnten") und die Gefahr, die selbst von Gleichaltrigen drohte, deren Eltern SED-Mitglied waren: "Wie verbringen ein Kind ohne Pioniertuch und eine Bonzentochter ihre gemeinsame
Zeit? Sie fahren zu zweit auf dem Fahrrad, himmeln die Geschichtslehrerin an, diskutieren über Maria Stuart, aber niemals über "Nesthäkchen", nie über den Jugendkreis der Jungen Gemeinde und nie
über andere Themen, die sich als heikel erweisen können."
Für den zweiten Teil ihres Buchs hat Christine Brinck fünf Interviews geführt, in denen höchst unterschiedliche Menschen über "andere Kindheiten in der DDR" berichten. Flüchtlinge kommen
hier zu Wort, aber auch von der Bundesrepublik Freigekaufte und Menschen, denen die Flucht nicht gelang. Zusammen mit Brincks eigenen, schön geschriebenen Schilderungen erhält der Leser einen
sehr persönlichen Einblick in den Alltag der DDR.
Ziel: Ankämpfen gegen die "Ostalgie"
"Ich schreibe über meine Kindheit in der frühen DDR, weil nicht nur meine Kinder und ihre Freunde keine Ahnung haben, wie es in der zweiten deutschen Diktatur zuging, sondern auch viele
Ältere", nennt Brinck im Vorwort den Grund für ihr Buch. Im Nachwort freilich macht sie deutlich, dass es ihr vor allem um ein Aufräumen mit einer sich aus ihrer Sicht ausbreitenden Ostalgie
geht. Gegen diese schreibt Brinck an.
"Die Sehnsucht nach Pionierlagern ist aus Sicht des Kindes nicht anderes als die nach HJ-Lagern, da wurde auch nicht gefoltert, sondern nur ideologisiert, gesungen, Frühsport getrieben und
sich um die Gulaschkanone versammelt", wagt Christine Brinck einen höchst problematischen Vergleich und ergänzt: "Doch Jugendliche der Nachkriegszeit hätten sich gehütet, die schöneNazikindheit
zu verherrlichen."
Dieser Impetus gibt dem ansonsten sehr lesenwerten und informativen Buch einen recht faden Beigeschmack. Wer sich dennoch für einen subjektiven Blick auf die Zeit vor dem Mauerbau aus der
Sicht einer damals Jugendlichen interessiert, dem sei dieses Buch empfohlen.
Christine Brinck: Eine Kindheit in vormaurischer Zeit, Berlin Verlag 2010, ISBN 978-3827009265, 19,90 Euro
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