Benno Ohnesorg: Wie ein tödlicher Schuss Deutschland veränderte
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Liest man mit dem Abstand eines halben Jahrhunderts, was an jenem Frühsommerabend des 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper in West-Berlin geschah, dann mag man kaum glauben, was Stück für Stück im Laufe der Jahrzehnte ans Tageslicht kam – und was bis heute nicht restlos aufgeklärt ist. Der Schah von Persien und seine Frau waren auf Staatsbesuch in Deutschland. Und während die bunten Blätter sich hysterisch überschlugen und süßliche Geschichten vom orientalischen Märchenreich und der schönen, jungen Kaiserin produzierten, demonstrierten auf allen Stationen der Reise junge Studenten gegen das Terrorregime, in welchem die Geheimpolizei SAVAK politisch Andersdenkende folterte und umbrachte.
Jagd auf Studenten
In Berlin eskalierte die Situation: Viele Tausend Polizisten sollten das Herrscherpaar schützen. Sie verstanden das als Aufforderung, auf die Demonstranten einzuprügeln. Doch damit nicht genug: Hunderte von sogenannten „Jubelpersern“, vermutlich Mitglieder der SAVAK, gingen mit Holzlatten, Dreschflegeln und Stahlrohren auf die demonstrierenden Studenten los, ohne dass die Polizei eingriff. Die Bilder von prügelnden, türkischen Sicherheitsleuten, die in Washington auf Erdoğan-kritische Demonstranten einschlugen, erinnern ein wenig an die Filmaufnahmen von damals. In den USA im Jahr 2017 ging jedoch die Polizei dazwischen. Im Berlin des Jahres 1967 aber jagte die Polizei an diesem Abend lieber die Studenten anstelle ihrer Angreifer. Wie diese sogenannten Jubelperser damals ins Land gekommen waren, wurde nie aufgeklärt.
In einem Hinterhof in der „Krumme Straße“, nahe der Oper, wurde Benno Ohnesorg, Mitglied der evangelischen Studentengemeinde und zum ersten Mal bei einer Demonstration, durch einen gezielten Schuss aus einer Polizeiwaffe in den Hinterkopf getötet. Doch statt aufzuklären, wie es dazu kommen konnte, schützte falscher Korps-Geist bei der Polizei, der politischen Führung und der parteiischen Springer-Presse den Täter Karl-Heinz Kurras. Er wurde in zwei Instanzen freigesprochen, obwohl damals schon bekannt war, dass er und die Zeugen logen. Erst Jahrzehnte später kam heraus, dass Polizei und Springer-Presse einen Stasi-Spion geschützt hatten!
Wie Täter zu Opfern wurden
Die Hetz-Presse versuchte sogar, die Schuld am Tod des jungen Mannes den linken Studenten in die Schuhe zu schieben. Die Täter wurden zu Opfern gemacht und die Opfer zu Tätern. Gleich nach der Tat und vor Gericht wurden Beweise gefälscht. Ein Beispiel von vielen: Auf dem Totenschein aus dem Moabiter Krankenhaus hieß es zunächst, Benno Ohnesorg sei an den Folgen eines Schädelbruches gestorben. Man musste sich einen Tag später korrigieren: Es war eine Polizeikugel gewesen. Den Nahschuss aus der Waffe eines der besten Schützen der Polizei versuchte man dann als „Unfall“ darzustellen.
Auch Kurras selbst erzählte eine Lügengeschichte nach der anderen: Mit Messern hätten die Studenten ihn bedroht, er sei zu Boden getreten worden – und so habe sich eben zufällig der Schuss aus seiner Waffe gelöst. Die Zeitungen beteten brav nach, was Kurras erzählte. Sogar vor Gericht glaubte man das Märchen vom angeblich hilflosen Täter. Der konnte dank der tatkräftigen Hilfe seiner Kumpel bei Polizei und Springer-Presse bis zu seiner Pensionierung ungeschoren bei der Polizei Karriere machen und danach 27 Jahre lang seine Pension kassieren. Mit 87 Jahren starb er in einem Krankenhausbett in Spandau. Reue hatte er nie gezeigt: Im Jahre 2007, zwei Jahre vor seinem Tod, sagte er in einem „stern“-Interview: „Fehler? ... Wer mich angreift, wird vernichtet. Aus. Feierabend. So ist das zu sehen.“
Bis heute keine Entschuldigung
Der eiskalte Kurras beziehungsweise eine stramm rechte Polizeiorganisation, die ihn mit Lügen und dem Verfälschen von Beweismitteln ebenso schützte wie die Springerpresse, verursachte ein politisches Erdbeben. In Berlin traten der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz, SPD, der Innensenator und der Polizeipräsident zurück. Und aus einer bis zu diesem Zeitpunkt friedlichen Studentenbewegung, die mehr Demokratie an den Universitäten einforderte, wurde eine aggressive Massenbewegung ohne Vertrauen zum Staat und zu seinen Institutionen.
50 Jahre später: Grüne Politiker schlagen vor, einen Platz in Berlin nach Benno Ohnesorg zu benennen. Sohn Lukas, geboren vier Monate nach dem Tod des Vaters, fände das gut. Noch wichtiger allerdings wären ihm, so der „Spiegel“, „eine Entschuldigung und eine Entschädigung“. Beides hat es für ihn und seine verstorbene Mutter nie gegeben.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.