Geschichte

Beginn vor 80 Jahren: Wie Willy Brandt den Nürnberger Prozess erlebte

Als am 20. November 1945 der Nürnberger Prozess beginnt, sitzt auf der Pressetribüne auch ein junger Mann, der extra aus Norwegen angereist ist: Willy Brandt. Seine Eindrücke und Schlussfolgerungen des Prozesses schreibt er in einem Buch nieder, das häufig missverstanden wurde.

von Kristina Meyer · 20. November 2025
Schwarz-weiß-Aufnahme der Pressetribüne bei den Nürnberger Prozessen

Aufmerksamer Beobachter: Willy Brandt auf der Pressetribüne bei den Nürnberger Prozessen

Prominente Gesichter sind auf der voll besetzten Pressetribüne des Schwurgerichtssaals 600 im Nürnberger Justizpalast zu sehen, als der Vorsitzende Richter am Morgen des 20. November 1945 den Prozess des Internationalen Militärgerichtshofs gegen 21 NS-Hauptkriegsverbrecher eröffnet. Inmitten weltbekannter Schriftsteller*innen und Journalist*innen wie Alfred Döblin, Ernest Hemingway, Erich Kästner, Erika Mann oder Rebecca West sitzt auch ein unbekannter junger Berichterstatter, angereist aus Norwegen. Laut seinem Presseausweis ist der 31-Jährige als Korrespondent der „Labor Party Press Norway–Sweden“ akkreditiert. Sein Name: Willy Brandt.

Eine Reise durch das besetzte Deutschland

Keine zwei Wochen vorher hat der norwegische Staatsbürger wieder den Boden seines Heimatlands Deutschland betreten können – zum ersten Mal seit 1936, als er drei Monate unter falschem Namen in Berlin verbracht hatte. Mit einem britischen Militärflugzeug ist er am 8. November 1945 von Oslo zuerst nach Stockholm und von dort weiter nach Bremen gereist. SPD-Bürgermeister Wilhelm Kaisen leiht ihm seinen Dienstwagen samt Chauffeur, und so kann Brandt am 11. November in seine Heimatstadt Lübeck fahren, wo er seit seiner Flucht aus Nazi-Deutschland im Frühjahr 1933 nicht gewesen ist. Die Hansestadt ist so dermaßen zerstört, dass er die Straßen nicht wiedererkennt und sich durchfragen muss, um das Haus seiner Mutter Martha Kuhlmann zu finden. 

Eine Woche nach diesem langersehnten Wiedersehen reist Willy Brandt quer durch das besetzte Deutschland nach Nürnberg, wo er wie zahlreiche andere Prozessberichterstatter*innen in einem eigens eingerichteten „Press Camp“ im Schloss der Familie Faber-Castell unterkommt. Er verfolgt den gesamten ersten Monat der Verhandlungen, bevor er Weihnachten bei der Familie in Lübeck und den Jahreswechsel in Stockholm verbringt. Gleich am 2. Januar 1946 kehrt Willy Brandt nach Nürnberg zurück und schreibt in den folgenden Monaten zahlreiche Artikel über den Prozess, für das norwegische „Arbeiderbladet“ und andere skandinavische Zeitungen.

In Nürnberg wird das ganze Ausmaß der Verbrechen klar

Nebenbei unternimmt Brandt Reisen durch die US-Zone, um sich einen Eindruck von den Zuständen und der Stimmungslage im Land zu verschaffen. An Erich Ollenhauer schreibt er im April 1946 einen Brief, um seine Teilnahme am ersten Nachkriegsparteitag der SPD in Hannover anzukündigen: Er habe sich dagegen entschieden, noch ein drittes Mal nach Nürnberg zu reisen. Zwar sei der Prozess „interessant und wichtig und gibt uns sehr viel Material für die so notwendige Aufklärungsarbeit“, so Brandt, „aber man kann dort unmöglich noch ein halbes Jahr herumsitzen“. Und doch fährt er im August wieder hin und bleibt bis zur Urteilsverkündung am 30. September und 1. Oktober.

Was ihn besonders beeindruckt, ist die Materialfülle, mit der die Ankläger im Prozess die nationalsozialistischen Massenverbrechen belegen. Brandt hat schon während seines Exils in Skandinavien einiges über die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden in Erfahrung bringen können – durch sein weit gespanntes europäisches Netzwerk, aber auch durch seine Tätigkeit für eine amerikanische Nachrichtenagentur –, aber das ganze Ausmaß der Verbrechen wird ihm erst in Nürnberg klar.

Die Mitverantwortung „breiter Teile des deutschen Volkes“

Dass sich der Chefankläger Robert H. Jackson nicht die These von der Kollektivschuld der Deutschen zu eigen macht, nimmt Brandt wohlwollend zur Kenntnis. In seinen Exilpublikationen hat er immer wieder versucht, auf die Existenz eines „anderen Deutschland“ aufmerksam zu machen: „Im Verhältnis zum gesamten deutschen Volk waren es wenige. Es waren aber viele im Vergleich zu dem, was die Menschen in anderen Ländern sich vorstellten.“

Dennoch hat er die Größe und Wirkmächtigkeit des Widerstands aus der Arbeiterbewegung lange überschätzt und noch in den 1930er Jahren geglaubt, dass es über kurz oder lang zu einer „Erhebung der Volksmassen“ kommen werde. Zugleich steht für Brandt fest, dass „breite Teile des deutschen Volkes“ eine Mitverantwortung für den Erfolg des Nationalsozialismus ebenso wie für seine Massenverbrechen tragen.

Zwar ist er überzeugt, dass nur ein internationaler Gerichtshof dieses Verfahren gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher durchführen kann, aber dass die Alliierten keine Vertreter der deutschen Opposition gegen Hitler als Nebenkläger akzeptieren, kritisiert Brandt als „Regiefehler“ des Prozesses. Immerhin, so schreibt er, gebe es seit Anfang 1946 mehr Plätze für „deutsche Antifaschisten“ auf der Presse- und Zuhörertribüne.

Brandts Bericht: „Verbrecher und andere Deutsche“

„[D]ie Deutschen über den Prozess aufzuklären“ hält er für „eine große Aufgabe“, denn die öffentliche Meinung ist geteilter Ansicht: Diejenigen Deutschen, die dem NS-Regime nachtrauern, täten das alliierte Tribunal ohnehin als „Schwindel“ ab, dessen Urteil vorgezeichnet sei, während andere Teile der Bevölkerung – beschäftigt mit den Nöten des Nachkriegsalltags – dem Prozess „gleichgültig“ gegenüberstünden.

Immerhin, so Brandt, verfolge laut einer Meinungsumfrage „etwa die Hälfte der erwachsenen deutschen Bevölkerung den Prozess sehr genau“. Die Mehrheit sei der Auffassung, dass „die Angeklagten schuldig seien und fair behandelt würden“, und gebe außerdem an, durch den Prozess „Tatsachen“ erfahren zu haben, von denen sie vorher nichts gewusst hätten.

Diese und viele weitere Beobachtungen aus seiner Zeit in Nürnberg, aber auch Eindrücke von den Reisen durch das besetzte Deutschland schilderte Willy Brandt ausführlich in seinem Buch „Forbrytere og andre tyskere“ (Verbrecher und andere Deutsche), das bereits im Juni 1946 in Norwegen und zwei Monate später in Schweden erschien. Eine deutsche Fassung lag jahrzehntelang nicht vor; 1966 wurden lediglich Auszüge für Brandts Buch „Draußen“ übersetzt.

Entsprechend viele Mythen rankten sich um die Ursprungspublikation, deren Titel immer wieder falsch übersetzt wurde – etwa als „Deutsche und andere Verbrecher“ – und die Brandts Gegnern in ihren Kampagnen gegen den Remigranten als Munition diente. Erst 2007 veröffentlichte die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung das gesamte Buch in deutscher Übersetzung.

Willy Brandt: Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946, bearb. von Einhart Lorenz, Bonn 2007.

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Kristina Meyer

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und Sprecherin des Geschichtsforums beim SPD-Parteivorstand.

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Gespeichert von Dr. Christian … (nicht überprüft) am Do., 20.11.2025 - 15:11

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Ich bin erst kürzlich auf das Buch von Brandt aus dem Jahr 46 gestoßen, Verbrecher und andere Deutsche, - und auch auf die Kontroversen darum in späteren Jahrzehnten.
Da Brandt selbst das Buch in Deutschland nicht herausgebracht hat - es ist hier erst posthum in einer vermutlich verlässlichen Ausgabe erschienen - gab es lange nur mehr oder minder ausführliche Zitate in konservativen Kampfschriften, wohl zuletzt von Joachim Siegerist 1989 "Verbrecher und andere Deutsche: Das Skandalbuch Willy Brandts".
Das Buch Brandts selbst ist dagegen eine äußerst wertvolle Lektüre, auch, weil Brandt die Leiden der Deutschen in der Nachkriegszeit nicht aus falscher Scham unter den Tisch fallen lässt. Das gelingt ihm, dem Emigranten, glaubwürdiger als anderen.

Willy Brandt: Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946, bearb. von Einhart Lorenz, Bonn 2007.

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