Geschichte

Außenseiter mit Innensicht

von ohne Autor · 23. Juni 2009
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Herr Pragal, als Sie 1974 als West-Journalist in die DDR gingen, war es bei Ihren Kollegen üblich, eine Zweitwohnung in West-Berlin zu haben. Sie dagegen sind mit Ihrer Frau und zwei kleinen Kindern vollständig in den Osten übergesiedelt. Warum?

Ich kam aus München und kannte West-Berlin auch nicht gut. Da dachte ich: Ziehe ich doch gleich dahin, wo ich künftig arbeite und erlebe den Alltag und die Menschen und ihre Probleme.

Was hat Ihre Frau dazu gesagt, Ihre Freunde und Verwandten?

Meine Frau fand das spannend und war gleich dafür.

Es gab natürlich in unserem Freundeskreis welche, die gesagt haben: "Seid ihr verrückt geworden. Ihr geht da ganz nach Ost-Berlin?" Man muss überlegen, zu welcher Zeit das war - Anfang der 70er Jahre!

Ein Vertrag über das Zulassen gegenseitiger Korrespondenten war erst zwei Jahre zuvor, 1972, zwischen BRD und DDR geschlossen worden.

Genau, das war Neuland.

Wie war Ihr erster Eindruck von der Hauptstadt der DDR?

Natürlich gab es einen großen Unterschied zu West-Berlin. Die Häuser waren überall ziemlich vergammelt. Altbausubstanz, der man ansah, dass über Jahrzehnte nichts gemacht worden war.

Gleichzeitig entstanden Neubaugebiete, weil große Wohnungsnot herrschte. Überall wurden Laubenkolonien platt gemacht und ganze Viertel neu hochgezogen. Das war schon imponierend, in welchem Tempo und in welchem Ausmaß das gelang.

Und dann haben wir ja selbst so einen Neubau kennen gelernt.

Sie bekamen eine Wohnung in Berlin-Lichtenberg zugewiesen, in einer Plattenbau-Siedlung.

Genau, im Weißenseer Weg, später Ho-Chi-Min-Straße.

Wenn ein DDR-Bürger eine Neubauwohnung bekam, glaubte er, das große Los gezogen zu haben. Da gab es Fernheizung und warmes Wasser, das war Komfort. Die Wohnungen waren auch nicht schlecht geschnitten.

Sie waren also auch zufrieden?

Gegen die Wohnung war nichts zu sagen. Sie lag allerdings an einer sehr lauten Straße. Und, was schlimmer war, gleich hinter unserem Neubaugebiet produzierte die VEB Elektrokohle. Die hatten damals keine Filter und haben nachts den ganzen Dreck abgelassen. Der lagerte sich überall ab. Wir mussten jeden Morgen erst mal die Möbel abwischen.

Die Luft war dadurch sehr stark verschmutzt. Unsere Kinder hatten permanent Bronchitis und waren krank. Das war schon eine Verschlechterung gegenüber München.

Sind Sie mit einer bestimmten Vorstellung von den DDR-Bürgern nach Ost-Berlin gegangen?

Ich habe mich einfach darauf eingelassen. Ich war neugierig, wie man das als Journalist eigentlich sein sollte. Ein bisschen Abenteuer war natürlich auch dabei. Wir sind ja nicht in ein wildfremdes Land gekommen, sondern es war ein Teil des früher ungeteilten Berlins. Es war nicht Polen oder Russland, sondern der andere deutsche Staat.

Es war eine kuriose Situation, oder? Fremdes und Vertrautes gleichermaßen zu erleben.

Ja, auf der einen Seite Dinge, die mir nicht als fremdartig aufgefallen sind, weil es die genauso in irgendeiner anderen westdeutschen Stadt gab, und dann das andere politische System.

Ich bin ja nicht blauäugig da hingegangen. Ich habe mich vorbereitet und wusste einigermaßen, wie das politische System funktioniert. Und dass wir vom Staatssicherheitsdienst observiert werden würden, war mir auch klar.

Ich kannte nur nicht das Ausmaß. Das habe ich später aus den Akten erfahren.

Mehr als 20 Inoffizielle Mitarbeiter waren auf sie angesetzt. Zusätzlich wurden sie beschattet, abgehört, ihr Büro durchsucht, sogar private Tagebücher ausgewertet. Jeder Theaterbesuch penibel protokolliert. Es ging weiter, als Sie sich vorgestellt hatten.

Ja, aber diese Erkenntnis habe ich natürlich erst gewonnen, nachdem es die DDR nicht mehr gab.

Was unser Privatleben betraf, haben wir einfach versucht das völlig auszuschalten. Es war uns egal. Wir lebten so, als gäbe es keine Lauscher.

Ansonsten haben wir darauf geachtet, keine Menschen in Gefahr zu bringen. Manche kamen naiv oder blauäugig zu uns und erzählten etwas, das ihnen hätte schaden können. Ich habe dann die Hände an die Ohren gelegt und an die Decke geschaut, um zu signalisieren: Hier haben die Wände Ohren. Die meisten haben das auch richtig gedeutet. Manche sind vorsichtiger geworden. Andere, denen das nichts ausmachte, haben weiter drauflos geredet.

Eine Familie geriet ins Visier der Stasi, nur weil Sie Ihnen eine Postkarte geschickt hatten.

Frau Zapf war eine ehemalige Klassenkameradin meiner Schwiegermutter. Wir dachten, es sei nützlich einen Kontakt in Ost-Berlin zu haben und schickten ihr eine Karte mit unserer Ost-Berliner Adresse.

Die Karte wurde abgefangen.

Ja. Diese Frau Zapf war in der SED. Aber sie war kritisch gegenüber manchen Praktiken in dieser Diktatur. Und als dann die Stasi zu ihr kam und sie ermunterte, den Kontakt zu uns zu pflegen - natürlich um anschließend Bericht zu erstatten - lehnte sie ab. Ihr Sohn ebenso. Und dann haben die Behörden sie schikaniert. Der Verkauf von Familienschmuck wurde als Wirtschaftsverbrechen ausgelegt. Der Sohn kam ins Gefängnis, verlor seine Arbeit.

Später konnte die Familie ausreisen. Der Fall hat aber die Unbarmherzigkeit des Systems gezeigt. Hat Sie das sehr getroffen?

Ich kannte solche Fälle vorher nur vom Hörensagen. Aber diesmal war ich direkt betroffen. Hätte ich die Karte nicht geschickt, wäre die Familie gar nicht in diese Schwierigkeiten gekommen.

Im Alltag haben Sie sich bemüht, nicht gleich als Westler in Erscheinung zu treten. Sie haben sogar in DDR-Geschäften eingekauft.

Ich wollte den Alltag kennen lernen. Und dazu musste ich das Gleiche machen wie die Menschen, über die ich schreiben sollte. Und so sind wir in die Kaufhalle gegangen und haben die ersten Monate wie DDR-Bürger gelebt. Später, nachdem ich wusste, wie es läuft, habe ich aber auch in West-Berlin eingekauft.

Nicht nur für sich selbst, oder?

Nicht nur für uns. Wir hatten sehr schnell einen relativ großen Freundeskreis.

Weil Sie so interessant waren?

Bei uns gab es Dinge, die andere Menschen nicht hatten: Westzeitungen, Bücher, die es in der DDR nicht gab. Kataloge, in die man schauen konnte. Das weckte Begehrlichkeit. Wenn uns Leute besser kannten, fragten sie: "Können wir da was bestellen? Könnt ihr uns das besorgen?"

Was für Sachen waren das?

Das ging von Stiefeln über Armaturen für´s Badezimmer bis zu Elektronikteilen. Meine Frau kannte bald die einschlägigen Fachgeschäfte. Wegen meiner Stellung hatten wir beide eine so genannte Grenzempfehlung. Meist mussten wir nur noch eine Zählkarte ausfüllen und kamen dann schnell über die Grenze. Wir wurden eigentlich nie kontrolliert. Die Kurierfahrten hat meist meine Frau gemacht, mit ihrem 2CV.

Dieses Auto hat die Grenzer nicht sehr beeindruckt.

Nach einem Unfall brauchte meine Frau einen neuen Wagen. Wieder eine Ente, die ich überführte. Da sagte der Zöllner: "Können Sie Ihrer Frau kein anständiges deutsches Auto kaufen?"

Er meinte wohl keinen Trabi?

Nein, auch keinen Wartburg, eher einen BMW oder Audi.

In Ihrem Buch schwingt immer Ambivalenz mit: Es gab Einschüchterung, aber auch Lustiges.

Ich wollte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass Leben in der DDR sei für alle Menschen nur ein Jammertal und ein gefängnisartiges Dasein gewesen. Ich wollte vermitteln, auch da hat es Lebensfreude gegeben und die Menschen haben versucht, sich unter diesen widrigen Umständen irgendwie durch zu lavieren und ihr eigenes Leben zu leben. Gleichzeitig habe ich darauf geachtet, dass die ganze Brutalität der Diktatur klar wurde - durch die Einzelfälle, die ich geschildert habe.

Für die DDR-Behörden waren Sie eine harte Nuss, vor allem als Sie für Ihren Sohn einen Grundschulplatz beantragten.

Das war eine ganz schwierige Geschichte. Unsere wahren Motive sind den DDR-Behörden, glaube ich, verborgen geblieben.

Als unser Sohn schulpflichtig wurde hatten wir Erfahrungsberichte von Bekannten, die an der Ständigen Vertretung arbeiteten und ihre Kinder mit dem Schulbus nach West-Berlin schickten. Diese Kinder waren in der einen Stadthälfte nicht wirklich zu Hause und in der anderen auch nicht. Die hatten Schulfreunde in Charlottenburg, die sie nie im Alltag in Ost-Berlin besuchen. Und umgekehrt kannten sie auch kaum jemanden in Ost-Berlin. Ein Kind zwischen zwei Welten wollten wir nicht. Unser Sohn sollte dort zur Schule gehen, wo wir den Lebensmittelpunkt hatten. Das war in Lichtenberg.

Wie waren die Reaktionen?

Einige Kollegen haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. "Du kannst doch mit deinem Sohn nicht solche Experimente machen", sagte einer. Und in den Behörden gab es zwei Auslegungen: Die einen glaubten, ich würde mit diesem Schritt die Überlegenheit des sozialistischen Bildungswesens anerkennen. Andere sagten: "Der ist Journalist, der macht das nur, um besser recherchieren zu können."

Und im Nachhinein, war die Entscheidung richtig?

Ja, mein Sohn hatte eine richtig gute Pädagogin, keine Genossin. Wir haben ein Vertrauensverhältnis zu ihr entwickelt. Das ging so weit, dass wir ihr regelmäßig eine West-Fernsehzeitung zusteckten.

Meinem Sohn hat dieser Schulbesuch nicht geschadet. Er hat erstens sehr gut Lesen und Schreiben gelernt. Und was die politisch Beeinflussung betrifft, das konnten wir zu Hause locker korrigieren.

Kam er heim und hat sozialistische Lieder gesungen?

Ich denke, die DDR hat in ihrer Volksbildung einen Riesenfehler gemacht. Sie hat das ursprüngliche Interesse der Kindern durch ein Übermaß an Agitation zunichte gemacht. Das ist uns durch unseren Sohn richtig bewusst geworden. In der Schule wuchs sein Widerwille gegen den Russenkult und bestimmte Formen der Agitation. Ich glaube, er ist da eher immunisiert worden.

Herr Pragal, zum Schluss noch eine Bitte: Sie haben mit Vorliebe DDR-Witze gesammelt. Erzählen Sie doch mal Ihren Lieblings-Witz.

Für alle gesellschaftlichen Probleme gab es irgendwie auch Witze. Das hat mich fasziniert.
Besonders gefällt mir dieser:
Was ist der Unterschied zwischen einem volkseigenen Betrieb und der DDR? - Im VEB sind die Fluchtwege gekennzeichnet.

Buchtipp:
Peter Pragal: "Der geduldete Klassenfeind - Als West-Korrespondent in der DDR", Osburg Verlag, Berlin 2008, 304 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3940731098

Das Interview erscheint in der vorwärts-Ausgabe 7/2009 im Kulturteil " Zeitblende".

Peter Pragal: Der geduldete Klassenfeind
- Als West-Korrespondent in der DDR
Osburg Verlag,
Berlin 2008, 304 Seiten; 19,95 Euro
ISBN: 978-3940731098
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