Aus der „vorwärts“-Geschichte: Der Tod des Kanonenkönigs
Er wird „Kanonenkönig“ genannt, Friedrich A. Krupp, der Chef der weltweit führenden Rüstungsfirma Krupp aus Essen. Ohne ihn wäre die Aufrüstungspolitik Wilhelm II. nicht denkbar gewesen. Krupp ist Anfang des 20. Jahrhunderts der mächtigste und reichste Industrielle Deutschlands. Wie kein Zweiter symbolisiert er die Allianz zwischen der Rüstungsindustrie und dem militaristischen Kaiserreich.
Kampf gegen die Bestrafung von Homosexualität
Als der Vorwärts-Redakteur Kurt Eisner 1902 von den gleichgeschlechtlichen Liebschaften Krupps erfährt, sieht er die Gelegenheit. Eisner, 1919 der erste SPD-Ministerpräsident von Bayern, hat zwei Ziele. Zum einen will er „die doppelte Moral der Herrschenden, die sich hinter ihrer waffenklirrenden Großmannssucht verbarg, endlich einmal entlarven“, so der Historiker Bernt Engelmann. Die SPD kämpft entschieden gegen Militarismus und Aufrüstung. Zum anderen sieht er die Chance, „einen entscheidenden Schlag gegen den Paragraf 175“ zu führen, so Friedrich Stampfer, der damalige Redaktionskollege Eisners.
Der Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuches bedroht einvernehmliche Homosexualität unter erwachsenen Männern mit Haft. „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt, wird mit Gefängnis bestraft“, heißt es im Gesetz. Der sozialdemokratische Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld kämpft seit 1897 mit dem „Wissenschaftlich-humanitären Kommite“ (WhK) gegen den Paragrafen. Er legt dem Reichstag eine Petition zur Streichung des Paragrafen 175 vor, die von nahmhaften Persönlichkeiten unterzeichnet wird: Die prominentesten Sozialdemokraten sind der SPD-Vorsitzende August Bebel, der spätere Reichstagspräsident Paul Löbe und der spätere Reichsjustizminister Gustav Radbruch.
Angst vor der Einstufung als „Skandalblatt“
Kurt Eisner glaubt, dass die Enthüllung der Homosexualität Krupps „den Anstoß gibt, endlich jenen Paragraf 175 aus dem Gesetzbuch zu entfernen, der durch Veranlagung sittlich fühlende Personen zu ewiger Furcht verdammt und sie zwischen Gefängnis und Erpressung in endloser Bedrohung festhält“. Doch es sollte anders kommen. Friedrich Stampfer warnt Eisner vergebens vor der Veröffentlichung im „Vorwärts“: „Zwar zweifelte ich keinen Augenblick an seinen guten Absichten, aber mir graute vor dem Skandal. Und würde das Zentralorgan der Partei durch die Enthüllungen solcher Art nicht selber zum Rang eines Skandalblatts herabsinken?“
Am 15. November ist es soweit: In seinem einspaltigen Artikel „Krupp auf Capri“ berichtet der „Vorwärts“ von Krupps gleichgeschlechtlichen Urlaubsaffären auf der Insel Capri. Der Skandal ist perfekt. Der wilhelminische Polizeiapparat reagiert blitzschnell: Die Vorwärts-Ausgabe vom 15. November wird verboten, alle noch auffindbaren Exemplare werden beschlagnahmt, Wohnungen der Abonnenten durchsucht, selbst die Büros der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten werden nicht verschont. Krupp selbst stellt gegen den verantwortlichen Vorwärts-Redakteur Strafanzeige.
Schock in der Redaktion des „Vorwärts“
Doch das Schlimmste kommt erst noch: Als die Enthüllung trotz der Vorwärts-Beschlagnahme nicht mehr unter der Decke zu halten ist und schließlich auch am Essener Sitz der Firma Krupp zum Tagesgespräch wird, sieht Friedrich A. Krupp am 22. November 1902 keinen anderen Ausweg mehr, als Selbstmord. Offiziell spricht man von einem Gehirnschlag, aber niemand glaubt an diese Version.
Die Vorwärts-Redaktion ist geschockt. „Eisner saß schweigend an seinem Platz“, erinnert sich Friedrich Stampfer. „Wir anderen saßen um ihn herum und blickten auf ihn. Uns war, als sähen wir das Blut über den Schreibtisch fließen.“ Wilhelm II selbst klagt die SPD an: „Diese Tat mit ihren Folgen ist weiter nichts als Mord“, so der Kaiser vor dem aufgebahrten Sarg bei der Beerdigung Krupps. Doch der befürchtete Angriff auf die SPD bleibt aus. Krupps Witwe verzichtet auf Strafanzeige gegen den „Vorwärts“. Der Skandal soll so schnell wie möglich beendet werden.
Paragraf 175 wird erst 1994 gestrichen
Kurt Eisners Wunsch nach Streichung des Paragrafen 175 erfüllt sich nicht. Der Paragraf wird 1933 von den Nationalsozialisten verschärft. Strafbar ist nun bereits die gleichgeschlechtliche Veranlagung. Zehntausende homosexuelle Männer werden verhaftet, misshandelt und ermordet. Die Regierung Adenauer übernimmt 1949 die verschärfte Nazifassung des Paragrafen und verweigert den schwulen Naziopfern jede Entschädigung. 1969 entschärft Justizminister Gustav Heinemann (SPD) den Paragrafen. 1994 schließlich streicht der Deutsche Bundestag den Paragrafen 175 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch – 92 Jahre nach dem Krupp-Skandal.