Geschichte

Als der „Vorwärts“ 1876 laufen lernte

Am 1. Oktober 1876 erblickt der "Vorwärts" das Licht der Welt. Der Kampf um seine Auflage ist ein Kampf um die Köpfe. Der "Vorwärts" führt ihn im Kaiserreich sehr erfolgreich: Bis 1914 verdreizehnfacht er seine Auflage.
von Jochen Loreck · 19. September 2016
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Eine neue Zeitung  braucht wie ein neugeborenes Kind einen Namen. Sechs stehen zur Auswahl, als die 98 sozialdemokratischen Parteitagsdelegierten am späten Vormittag des 23. August 1876 in Gotha beraten: Entweder soll das Blatt „Vorwärts“ heißen oder aber „Der Socialist“, „Der Social-Demokrat“, „Der Arbeiter“, „Der Proletarier“, „Die Zukunft“. Der Hamburger Delegierte Rönnekamp meint dazu, der Titel sei eigentlich nebensächlich. Hauptsache „ist größtmögliche Billigkeit, denn das Blatt soll in jede Hütte hineindringen“. Am Ende steht eine Mehrheit für die Kampf-Metapher „Vorwärts“. Und rasch geht es mit dem „Vorwärts“  aufwärts. Drei Mal pro Woche erscheint er ab 1. Oktober 1876 – Druckort Leipzig. Mitte 1877 zählt er bereits 12.000 Abonnenten. Nach dem Sozialistengesetz startet  er in Berlin mit 25.000 Abos, erreicht am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine Auflage von 160.000 Exemplaren.

Wilhelm Liebknecht: „Das gedruckte Wort bleibt.“

Der Kampf um die Auflage ist ein Kampf um die Köpfe. Denn die großen Konkurrenzparteien – Konservative, Liberale, politischer Katholizismus – verfügen bereits über eine wirkmächtige Gesinnungspresse. Um deren Dominanz zu brechen, plädiert Vorwärts-Chefredakteur Wilhelm Liebknecht für ständige Werbekampagnen, mündlich – durch Wanderredner, die von Ort zu Ort ziehen – sowie schriftlich durch die Weitergabe von Flugblättern und Zeitungen. Liebknecht hält es mit dem Slogan der Arbeiterbildungsvereine: „Lies dich empor!“ Zeitungen, unterstreicht er,  seien für den Siegeszug sozialdemokratischer Ideen allerdings am allerwichtigsten. Denn: „Das gedruckte Wort bleibt, das gesprochene aber verfliegt.“

Die Pioniere der Arbeiterbewegung  registrieren freilich immer wieder, dass Lesen allein nicht ausreicht. Man muss auch begreifen können. Populärer Stil ist gefragt. Auf Parteitagen gibt es darüber viel Zoff. Wiederholt wird gefordert: Der „Vorwärts“ soll volkstümlicher schreiben und weniger Fremdwörter benutzen.

August Bebel: „Es muss ein bisschen Krakeel sein.“

Auch August Bebel ist häufig unzufrieden mit dem „Vorwärts“, vermisst eine klare Kursbestimmung in Streitfragen. Ganz anders die Kritik von Friedrich Engels: Die gesamte SPD-Presse ist seiner Ansicht nach zu sehr auf Vorstandslinie. Er argumentiert, die Sympathisanten der SPD „kann man nicht wie Schuljungen einpauken, da muss Debatte und auch ein bisschen Krakeel sein.“

Krakeel in der eigenen Familie erlebt die Frauenrechtlerin Lily Braun. Heimlich liest sie die Berliner SPD-Zeitung, als plötzlich ihr Vater, ein kaiserlicher General, ins Zimmer tritt. Lily Braun: „Mein Vater entdeckte die Zeitung, die offen vor mir lag. Die Ader schwoll ihm auf der Stirn, und blau-rot färbten sich seine Züge. Was für ein Schuft hat dir diese Zeitung in die Hände geschmuggelt? schrie er. Vor meine Pistole mit dem infamen Patron.“

Die Obrigkeit gegen den „Vorwärts“

Noch stehen sich in jener Zeit Sozialdemokratie und Obrigkeit unversöhnlich gegenüber. Gegen die Akteure der SPD-Presse hagelt es immer wieder Strafen – wegen Majestätsbeleidigung, Aufwiegelung zum Streik, Nicht-Einhalten von Versammlungsverboten. Und den kaiserlichen Beamten ist es nicht einmal erlaubt, den „Vorwärts“ zu abonnieren.

Viele Jahre später beschreibt der Journalist Arno Scholz, dass dieses Verbot seinen „ersten Parteiauftrag“ ausgelöst hat: Scholz, noch im zarten Knabenalter, rollt den „Vorwärts“ zusammen, steckt ihn in eine leere Milchkanne und geht damit zur Wohnung eines Schutzmanns, der heimlich mit der SPD sympathisiert. „Ich tat so, als ob ich aus Gefälligkeit Milch mitbringen wollte. Diese Tarnung habe ich mit so vielen Nuancierungen ausgeführt, dass nie die eifrige Obrigkeit dahinterkam.“

Doppelrolle: Journalist und Politiker

Viele der frühen und immer munter oppositionellen Vorwärts-Journalisten sind in einer Doppelrolle. Sie schreiben und reden. Sie sind sowohl publizistisch als auch parlamentarisch aktiv – wie bereits die beiden ersten Vorwärts-Redakteure Wilhelm Liebknecht und Wilhelm Hasenclever. Als Liebknecht 1900 stirbt, folgen geschätzte 150.000 Menschen seinem Sarg. Und auch von Hasenclever – er stirbt bereits 1889 – gibt es ein beredtes Zeugnis seiner außerordentlichen Popularität: Für den 8. November 1881 hat der Reichstagsabgeordnete Hasenclever zu einer Versammlung ins Berliner Lokal „Eiskeller“ eingeladen. Tausende Arbeiter machen sich auf den Weg, stehen dann aber vor verschlossenen Türen. Der Saal ist polizeilich abgesperrt. Im Vorraum steht Hasenclever – und da formiert sich urplötzlich-spontan eine Protest-Aktion gegen das so verhasste Sozialistengesetz. Mann für Mann defilieren die Arbeiter an Wilhelm Hasenclever vorüber, und jeder ruft ihm zu: „Wilhelm, wir bleiben treu!“

 

Autor*in
Jochen Loreck

war von 1986 bis 1990 Vorwärts-Redakteur. Danach bis 2010 Parlamentskorrespondent für den "Kölner Stadt-Anzeiger" und die "Mitteldeutsche Zeitung".

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