Der Kongress fiel in eine Periode, die für die SPD von historischer Bedeutung war: Die Partei war herausgetreten aus der Rolle der Opposition, in die sie - von nur kurzen zeitlichen Abständen
unterbrochen - durch die herrschenden Kräfte und die politischen Umstände, über mehr als hundert Jahre gedrängt worden war. Nach dem großen Wahlerfolg bei der Bundestagswahl 1972 ("Willy-Wahl")
übernahm die von Willy Brandt geführte Bundesregierung politische Verantwortung für das ganze Land. Vor allem durch ihre Politik der Friedenssicherung und ihre soziale Reformpolitik hatte sich
die Sozialdemokratie das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten erworben.
Die neu gegründete Arbeitsgemeinschaft fing mit ihrer Arbeit nicht beim Punkt Null an. Seit Jahren schon gab es in vielen Betrieben und Verwaltungen sozialdemokratische Betriebsgruppen,
Vertrauensleute und es existierten regionale Arbeitsgemeinschaften, so in Hamburg, Bremen, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz. So war es nur konsequent und
vernünftig, als der Parteitag 1971 in Bad Godesberg den Parteivorstand beauftragte, einen angemessenen organisatorischen Rahmen für diese Aktivitäten zu entwickeln. Damit wurde auch die
Konsequenz aus der Erfahrung gezogen, dass die Wohnortorganisation der Partei, allein auf sich gestellt, vor allem durch die Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz, kein ausreichendes
Beziehungsfeld zur betrieblichen Erfahrungswelt schaffen kann, auf das die Partei aber angewiesen ist.
Für Vertrauen werben
Auch den gesellschaftlichen Strukturveränderungen mussten Rechnung getragen werden. Die Arbeitnehmerschaft, zur Zeit der Gründung der Sozialdemokratie ein knappes Drittel der
Erwerbstätigen, war zur großen Mehrheit in der Gesellschaft geworden: Mehr als 80 Prozent der Erwerbstätigen zählten inzwischen zu den Arbeitnehmern - Arbeiter, Angestellte und Beamte.
Vor allem Herbert Wehner sah voraus, wie wichtig die Beziehungen und die Kommunikation zwischen der Partei und den Arbeitnehmern und damit auch zu den Gewerkschaften, für die politische
Gestaltungs- und Regierungskraft der SPD waren. Die Arbeitnehmer seien keine "Hausmacht" der SPD, so Wehner, die man beliebig in Rechnung stellen könne. Ihr Vertrauen müsse immer neu erworben
werden.
Politische Hoffnung der Arbeitnehmer
Über die Aufgaben der Arbeitsgemeinschaft war im Vorfeld des Kongresses viel spekuliert worden. Helmut Rohde, der mit großer Mehrheit gewählte erste Vorsitzende der AfA, stellte dazu fest,
dass die Arbeitsgemeinschaft kein Ersatz für die Aufgabe der SPD im Ganzen sei, Arbeitnehmerinteressen in der Gesellschaft zu vertreten und durchzusetzen: "Wir sind als Arbeitsgemeinschaft auch
künftig nicht allein Ausdruck der Arbeitnehmerpolitik der Partei. Wir haben der Partei vielmehr zu helfen, ihren politischen Auftrag zu erfüllen, insgesamt Repräsentanz und politische Hoffnung
der Arbeitnehmer zu bleiben. Durch Betriebsgruppen und Arbeitsgemeinschaften wollen wir die SPD so nahe wie möglich an den Arbeitsplatz und die Erfahrungswelt der Arbeitnehmer heranführen und
dafür sorgen, dass es einen nicht abreißenden Willensbildungsprozess zwischen Arbeitnehmern und der Sozialdemokratie gibt." Ihrer Verantwortung werde die Partei auch als führende Regierungskraft
umso eher und wirksamer gerecht werden können, wenn sie sich dabei ihrer Wurzeln und ihrer Grundlagen erinnere, so Rohde.
Durch ihre Beteiligung an der Politik, ihre betrieblichen und regionalen Aktivitäten wie durch ihre vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, hatten die sozialdemokratischen
Arbeitnehmer in den 70er Jahren nicht nur erheblichen Anteil an den Wahlerfolgen der Partei, sondern auch an der Reformpolitik der Regierung: Lohnfortzahlung, neues Betriebsverfassungs- und
Personalvertretungsgesetz, der Ausbau der Mitbestimmung sowie der Arbeits- und Sozialbeziehungen, die Humanisierung des Arbeitslebens und die Reform der beruflichen Bildung trugen ihre
Handschrift.
Bild der Volkspartei mitgeprägt
Vertreter der AfA und der Gewerkschaften gehörten nicht nur dem Deutschen Bundestag, den Landes- und Kommunalparlamenten an, sie übernahmen auch Regierungsverantwortung im Bund und in den
Ländern. So entstand das Bild einer Volkspartei, die sich durch ihre Friedenspolitik, gesellschaftliche Reformen und durch ihre Nähe zu den Arbeitnehmern das Vertrauen und die Zustimmung breiter
Bevölkerungsschichten und der gesellschaftlichen Mitte als Grundlage für politische Mehrheiten und Stabilität sicherte.
Das Bildals arbeitnehmerorientierte Volkspartei verblasste nicht erst in den letzten Jahren. Schon früher hatten sich die innerparteilichen Strukturen und Machtverhältnisse in der SPD
geändert. Die in Betrieben und in den Gewerkschaften verankerte sozialdemokratische Arbeitnehmerschaft verlor nach und nach ihre zentrale Stellung in der Partei. Dominierend in den
Führungsgremien waren nunmehr die durch den Sozialstaat und die Bildungsreformen geförderten akademischen Aufsteiger, die dem früheren Drang zur Kollektivität und Geschlossenheit eher distanziert
gegenüberstanden und die "Modernisierung" von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in den Mittelpunkt ihres politischen Strebens stellten.
Widerspruch zu Willy Brandt
Erfahrungen und die Kompetenz der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerschaft wurden in der politischen Willensbildung als "traditionsbelastet" vielfach beiseite geschoben,
betriebliche Vertrauensarbeit und politische Beteiligung vernachlässigt. Der wirtschaftliche Strukturwandel trug zudem dazu bei, dass die Partei an ihrer betrieblichen Basis massiv an Boden und
damit an Beziehungen zu den Arbeitnehmern verlor. Diese Entwicklung schlug sich auch in der Repräsentanz der Arbeitnehmer in den Gremien der Partei und in den Parlamenten nieder. Ihnen gehören
heute nur noch wenige sozialdemokratische Betriebsräte und Gewerkschafter an. Auf Parteitagen der SPD sind sie zu exotischen Minderheiten geworden.
Diese Entwicklung steht im eklatanten Gegensatz zur Haltung Willy Brandts, der auf dem Gründungskongress der AfA erklärte: "Was ist unsere SPD? Sie ist vor allem die Heimat der Interessen
und Hoffnungen der Millionen arbeitenden Menschen in diesem Land. Daraus bezieht sie ihre Stärke. Darauf gründen ihr Selbstbewusstsein und ihre Solidarität. (...) Die breiten arbeitenden
Schichten sind auch die Basis unserer Regierungsarbeit. Durch uns sind sie an der Regierung beteiligt. Darauf gründet sich unser Stolz."
Grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft
Die Verhältnisse haben sich seitdem grundlegend verändert: in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt und auch im politischen Prozess. Globalisierung, Deregulierung der Arbeitsverhältnisse,
Rationalisierung und technischer Fortschritt haben seit Anfang dieses Jahrtausends nicht nur am Rande, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft zu einer permanenten Beschäftigungsunsicherheit
durch Stellenabbau, zunehmende Zeitarbeit, Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Niedriglöhne, Scheinselbständigkeit und Flucht aus der Tarifbindung, geführt. Diese so genannten prekären
Arbeitsverhältnisse umfassen bereits ein Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse.
Von der Politik wurde dies durch gesetzliche Maßnahmen als "marktwirtschaftlich notwendig" teilweise gefördert. Dass es heute international agierenden Unternehmen und Finanzinvestoren
erlaubt ist, nicht nur Regierungen unter Druck zu setzen und die sozialen Verhältnisse nach ihren Vorstellungen zu regeln, findet keine sozialstaatliche Legitimation und unterstreicht die
Notwendigkeit nach mehr demokratischer Kontrolle, wirtschaftlicher Mitbestimmung und sozialer Sicherheit.
Neue Formen politischer Beteiligung schaffen
Diese Entwicklung setzt die Politik unter einen enormen Handlungs- und Innovationsdruck. Unbestritten ist sie dabei auch auf externen Sachverstand und Beratung von außen angewiesen. Indem
aber immer mehr wichtige Probleme auf Expertenrunden und Kommissionen delegiert werden, der Einfluss von Wirtschaftslobbyisten auf die Politik zunimmt und sie nur noch von oben betrieben wird,
unterbleibt der für die demokratische Willensbildung und Mobilisierung der Wähler notwendige öffentliche Diskurs. Niemand wird für Kommissionsvorlagen in den Wahlkampf ziehen.
In einer Zeit weltweiter Veränderungen mit ihren Rückwirkungen auf die nationalen Demokratien, wird es für deren Parteien immer bedeutsamer, dass sie ein enges Geflecht von Beziehungen zu
ihrem gesellschaftlichen Umfeld haben. Es ist ein wichtiges Element demokratischer Willensbildung, in den gesellschaftlichen Gruppen zu wirken. Dabei geht es um mehr als um wahltaktische Manöver.
Gemeint ist vielmehr die feste Verankerung von Sozialdemokraten in den vielfältigen Bereichen des öffentlichen Lebens und in der Arbeitswelt.
Für die SPD heißt das konkret, dem Mangel an Demokratie entgegenzuwirken und durch neue Formen politischer Beteiligung und Mitbestimmung Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
Arbeitnehmer, Betriebsräte, Gewerkschafter und Vertrauensleute vor allem dort mitbestimmen können, wo sie ihre Kompetenz und Erfahrungen aus der Arbeitswelt einbringen können: In der Wirtschafts-
und Beschäftigungspolitik, bei der Humanisierung des Arbeitslebens, den Arbeitsverhältnissen, der Mitbestimmung, in der Sozialpolitik und bei der sozialen und demokratischen Ausgestaltung
Europas.
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