Geschichte

100 Jahre Vereinigte Staaten von Europa: Die Vision von Heidelberg

Vor 100 Jahren wurde das „Heidelberger Programm“ beschlossen. Darin formulierte die SPD das Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“. Geprägt war der Parteitag in der Geburtsstadt Friedrich Eberts aber von einem fundamentalen Streit.

von Klaus Wettig · 13. September 2025
Schwarz-weiß-Aufnahme der Delegierten des SPD-Parteitags 1925 in Heidelberg

Welche Richtung schlägt die SPD ein? Vor 100 Jahren entschieden sich die Delegierten des Heidelberger Parteitags für einen pragmatischen Weg.

Als Josef Amann am 13. September für die Heidelberger SPD die Delegierten in der Stadthalle begrüßte, musste er leider feststellen: ,,Der Ort, den Sie dieses Mal zu ihrer Parteitagung gewählt haben, ist kein parteigeschichtlicher Ort. Heidelberg ist keine Hochburg der Partei.“

Dass die SPD sich für ihren Parteitag für die Stadt im Südwesten Deutschlands entschieden hatte, lag an Friedrich Ebert. Der am 28. Februar 1925 plötzlich verstorbene erste Reichstagspräsident der Weimarer Republik sollte mit einem Parteitag in seiner Geburtsstadt geehrt werden. Dort war er 1871 geboren worden, hier hatte er seine letzte Ruhestätte gefunden. Vor Beginn des Parteitages gedachte der SPD-Parteivorstand mit einer Kranzniederlegung auf dem Bergfriedhof ihres ehemaligen Vorsitzenden und ersten demokratischen Staatsoberhaupts des Deutschen Reiches.

Streit über die programmatische Ausrichtung der SPD

In Heidelberg sollte ein neues Parteiprogramm beschlossen werden, da das auf dm Görlitzer Parteitag 1921 beschlossene Parteiprogramm der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) durch den Zusammenschluss mit der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) die zurückgewonnene Parteimehrheit nicht mehr widerspiegelte. Das reformsozialistische „Görlitzer Programm“ orientierte sich an der Mitarbeit im demokratischen Staat von Weimar, es sah im Parlamentarismus der Weimarer Republik eine Chance für die Umgestaltung von Gesellschaft und Staat zu einem Kultur- und Sozialstaat.

Dieser reformsozialistischen Position standen Auffassungen gegenüber, die aus der zurückkehrenden USPD nun als „linker Flügel“ vertreten wurden. Ganz aktuell war 1925 die Frage der Koalitionspolitik zu entscheiden, nachdem sich die Reichstags-SPD 1924 aus einer Koalition mit den bürgerlichen Parteien verabschiedet hatte. Das Pro und Contra der sozialdemokratischen Koalitionspolitik entzweite die SPD und ihre Fraktionen bis zum Ende der Weimarer Republik 1933. Die Gegenposition von Paul Levi, dem Vertreter des linken Flügels vorgetragen, sah in der Koalitionspolitik ein Abweichen vom Transformationsziel der SPD, den bürgerlichen Staat in einen sozialistischen Zukunftsstaat umzuformen. Eine „proletarische Hegemonie“ müsse erkämpft werden. 

Zwei Positionen stehen sich gegenüber

In der Debatte über die Koalitionspolitik, die die grundsätzliche Einstellung zum Staat von Weimar berührte, formulierte Rudolf Breitscheid, der Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion, die Mehrheitsposition: „Dieser Staat ist das Fundament, auf dem und an dem wir arbeiten. Dieser Staat ist die Republik, und mit unserer sozialdemokratischen Politik versuchen wir diesen Boden, diese Republik zu erhalten […] die republikanische Staatsform (ist) für uns eine Lebensbedingung […] sie (ist) die Voraussetzung dafür, dass wir unsere sozialistischen Ziele verwirklichen können.“

Dagegen stand der Antrag des linken Flügels, der von der SPD-Reichstagsfraktion forderte, „in allen künftigen Kämpfen ohne jede Rücksicht auf die bürgerlichen Parteien mit aller Schärfe die Interessen des Proletariats“ zu vertreten. Der Antrag wurde mit Zwei-Drittel-Mehrheit abgelehnt, was jedoch keine weiteren Konflikte über die Koalitionspolitik verhinderte. Unterschwellig wurde ein Traum gepflegt: „Republik, das ist nicht viel. Sozialismus ist das Ziel.“

Rudolf Hilferding setzt andere Akzente

Die offiziell wichtigste Aufgabe, der Beschluss eines neuen Programms, mit dem die Parteieinheit unterstrichen werden sollte, beanspruchte überraschend wenig Raum. Den Grundtext lieferte Karl Kautsky, der schon den Grundsatzteil des 1891 beschlossenen „Erfurter Programms“ verfasst hatte. Der hochangesehene Parteitheoretiker verblieb bei der „Wahrheit der (marxistischen) Theorie“, die gesellschaftliche Entwicklungen ignorierte.

Den Delegierten fiel wohl nicht auf, dass der weitere Programm-Autor, der ebenfalls marxistische argumentierende Rudolf Hilferding in seiner Programmrede andere Akzente setzte. Hilferding sah eine Parteiaufgabe darin, über das vertraute Milieu der Arbeiterklasse hinaus zu wachsen. Die SPD müsse sich sozial für die wachsende „Schicht der Angestellten aller Art“ öffnen. Er verwies auf die Bedeutung der „Kopfarbeiter“. Diese Gruppen müssten für den Emanzipationskampf der Arbeiterbewegung gewonnen werden. Theoretisch und umfassend praktisch erfüllte erst das „Godesberger Programm“ 1959 diese Forderung. 

Einige Forderungen sind bis heute offen geblieben

Auch die demokratietheoretischen Überlegungen Hilferdings gingen über den Programmtext hinaus. Die Weimarer Republik war für ihn kein bürgerlicher Klassenstaat, sondern die Staatsform, in der sich politische Freiheit und ökonomische Selbstbestimmung entfalten könne. Er distanzierte sich von der „alten Anschauung des Staatssozialismus“. Die SPD solle eine „Wirtschaftsdemokratie“ anstreben, in der Produzenten, Konsumenten und demokratischer Staat gemeinsam die Wirtschaft lenken sollten.

Im zweiten Teil, dem Aktionsprogramm findet sich dann die Fülle der praktischen Forderungen, bei denen die Lektüre nach 100 Jahren zu dem Ergebnis führt, dass die Sozialdemokratie auf eine höchst erfolgreiche Praxis zurückblicken kann. Nur beim Steuerrecht bleiben Forderungen offen. Die Trennung von Staat und Kirche wartet auf ihren Vollzug. Grund und Boden wurden nicht in den Dienst der Gemeinschaft überführt. Sie sind der kapitalistischen Ausbeutung weiterhin nicht entzogen.

Die Vision der Vereinigten Staaten von Europa

Im Kapitel „Internationale Politik“ taucht die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa auf, die im Kampf um die europäische Integration zu einem Markenzeichen der SPD wurde. Ein Alleinstellungsmerkmal unter den deutschen Parteien.

YouTube wurde aufgrund Ihrer Cookie-Einstellungen blockiert.
Zum Anzeigen des Inhalts müssen Sie die Marketing-Cookies akzeptieren .

Rudolf Hilferding erläuterte diese Forderung: „Wir wollen die Vereinigten Staaten Europas nicht als ein Wirtschaftsgebiet, das sich im Konkurrenzkampf gegen die Vereinigten Staaten Amerikas abschließt, wir wollen die vereinigten Staaten Europas nicht als Ausschließungsmittel etwa gegen England oder Russland, sondern wir wollen die Vereinigten Staaten Europas, damit die großen Probleme der Wirtschaft, die großen Probleme der auswärtigen Politik gelöst werden können.“

Hilferdings Interpretation hat auch nach 100 Jahren ihre visionäre Kraft nicht verloren. Der europäischen Integration gelangen große Erfolge nach dem Zweiten Weltkrieg, die für Rudolf Hilferding und den SPD-Parteitag eine in weiter Ferne liegende Erfüllung darstellten, dass sie jetzt durch europäische Populisten, eine irrationale Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten und den Kriegsherrn Wladimir Putin bedroht wird, löscht sie als Programm und Aktion nicht aus.

Angenommen wurde das Heidelberger Programm nach vierstündiger Beratung gegen wenige Stimmen am 18. September. Es galt offiziell bis zum Beschluss des Godesberger Programms 1959. Der Parteitag endete „unter den kraftvollen Klängen des Sozialistenmarsches“: „Auf Sozialisten schließt die Reihen…“.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Noch keine Kommentare
Schreibe einen Kommentar

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.