Geschichte

100 Jahre AWO: Warum Solidarität keine begrenzte Ressource sein darf

Humanität, Frauenrechte, Solidariät: die AWO wird 100. Publizistin Mely Kiyak und SPD-Chefin Andrea Nahles machen auf dem AWO-Neujahrsempfang deutlich, warum das Jubiliäumsmotto #wirmachenweiter gerade jetzt so wichtig ist. Große Bewunderung gilt auch ihrer Gründerin Marie Juchacz.
von Vera Rosigkeit · 16. Januar 2019

300 bis 400 Veranstaltungen werden es wohl werden, die die Arbeiterwohlfahrt (AWO) auf Landes- und Bezirksebene oder in ihren Ortsvereinen im Jubiläumsjahr 2019 organisieren wird.

Marie Juchacz gründet AWO 1919

100 Jahre wird sie alt, sie zählt zu den sechs Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Gegründet von der Sozialdemokratin Marie Juchacz 1919, die aus ihren eigenen Lebenserfahrungen schöpfte. Sie arbeitete als Dienstmädchen, später in einer Fabrik und schließlich in der Schneiderei ihres Mannes, so erklärt es Präsident Wilhelm Schmidt beim AWO-Neujahrsempfang vor rund 200 geladenen Gästen am Dienstag in Berlin.

Juchacz, die im selben Jahr als erste Frau vor der Weimarer Nationalversammlung eine Rede hielt, wendete sich in ihrem Engagement für Frauenrechte, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität gegen eine diskriminierende Armenfürsorge. Stattdessen kämpfte sie für soziale Rechtsansprüche, betont Schmidt. „Wir sind nur deshalb 100 Jahre erfolgreich, weil wir uns immer an unseren Grundwerten orientiert haben“, ist er überzeugt. Der 19-minütige Film „100 Jahre AWO - #wirmachenweiter“ wirft einen Blick zurück von den Anfängen in der Weimarer Republik, über die Zerschlagung durch die Nationalsozialisten, den Anfängen in der Nachkriegszeit mit Blick in die Zukunft unter dem Jubiläumsmotto: „#wirmachenweiter“.

Solidarität ist keine begrenzte Ressource

Einen großen Bogen vom Gestern zum Heute spannt auch Festrednerin Mely Kiyak. Die Publizistin spricht vom Wert der Humanität, die auch vor den Flüchtlingsschiffen nicht halten machen dürfe, die unlängst 19 Tage im Mittelmehr kreuzten, während europäische Regierungen von Solidarität als begrenzter Ressource sprachen. Kiyak warnt davor, Minderheiten auszuschließen, so wie es mit Armen und Obdachlosen beispielsweise in Ungarn der Fall ist. Das erinnere sie an einen von extrem rechten Parteien propagierten Begriff einer „volksgemeinschaftlicher“ Solidarität, an Exklusion statt Inklusion.

Das ehrenamtliche Engagement und die gelebte Solidarität beruhend auf den Grundlagenwerten der AWO wende sich gegen diese zerstörerische Kraft, ist sie überzeugt. Für Kiyak ist eine Gesellschaft, die ihre Bedürftigen nicht oder „nur schlecht versorgt, nicht nur inhuman, sondern zutiefst apolitisch.“

100 Jahre AWO, 100 Jahre Frauenwahlrecht

Was ihr besonders an Marie Juchacz und der von ihr bestellten späteren Geschäftsführerin Lotte Lemke gefalle, sei ihre Unbeirrtheit, erklärt sie. Begabte Netzwerkerinnen und Pionierinnen seien sie gewesen, die fest im Berufsalltag eingebunden, „ungeachtet des Risikos an Leib und Leben beschädigt“ zu werden, auch noch nach dem Verbot durch die Nazis weiterarbeiteten. „Es ging nie nur darum, bloß zu lindern, sondern immer auch darum, nachhaltig zu wirken und Strukturen zu ändern“, sagt Kiyak.

100 Jahre AWO, 100 Jahre Frauenwahlrecht – zwei Jubiläen, die nicht vom Wirken von Marie Juchacz zu trennen sind. Die AWO ehre ihre Gründerin jedoch nicht nur in Veranstaltungen, sondern „an jedem Tag mit eurer Arbeit“, sagt SPD-Chefin Andrea Nahles in einem Grußwort. Gegen die Heiterkeit der Herren im Parlament habe sie anreden müssen, zitiert Nahles aus dem Protokoll des Reichstages vom 19. Februar 1919. Für Juchacz war das damals frisch erworbene Frauenwahlrecht ein Recht, „was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist“.

Rechte für Frauen weiter erkämpfen

Doch noch heute werden Frauen Rechte vorenthalten, betont Nahles. Vom Gender Pay Gap über den geringen Anteil an Frauen in Vorstandsetagen bis hin zur derzeitigen Zusammensetzung des Bundestags, in dem der Anteil der Frauen bei 31 Prozent liegt. Für Nahles ein Zeichen dafür, dass es den einseitigen Pfad des Fortschritts nicht gibt, dafür aber einen klaren Zusammenhang zwischen einem Mehr an Sozialpolitik und einem Mehr an demokratischen Rechten für Frauen.

Mehr als 333.000 Mitglieder zählt die AWO. In über 13.000 Einrichtungen und Diensten arbeiten rund 210.000 sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter. Erstmalig bei einem Neujahrsempfang wurde am Dienstag auch der Lotte-Lemke-Engagementpreis verliehen. In einem interkulturellen Gemeinschaftsgarten des AWO Kreisverbandes Koblenz e.V. können Geflüchtete, Menschen mit Migrationserfahrung, ehrenamtliche Helfer und  Anwohner in der Natur zusammenkommen. Darüber hinaus stiftete die AWO im Jubiläumsjahr einen Sonderpreis, der an das Projekt AWO-Kultur des Kreisverbandes Siegen-Wittgenstein/Olpe geht, das Kulturtickets an Menschen vermittelt, die sich Theater- oder Konzertbesuche nicht leisten können. 

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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