Wir brauchen die vollständige Gleichstellung bis 2030
Ute Grabowsky/photothek.net
Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und damit verbunden deren finanzielle Unabhängigkeit war neben dem Frauenwahlrecht eine der zentralen Forderungen der frühen Frauenbewegung. Das Frauenwahlrecht feiert im kommenden Jahr seinen 100. Geburtstag. Von der gleichberechtigten Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt sind wir in Deutschland dagegen noch meilenweit entfernt.
Frauen wählen dieselben Berufen wie in den 70er Jahren
Mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Frauen sind arbeiten in Teilzeit. Die Lohnlücke und daraus resultierend die Rentenlücke sind im europäischen Vergleich mit 21 bzw. 54 Prozent besonders hoch, der Frauenanteil in Führungspositionen besonders niedrig. Das Berufs- und Studienfachwahlverhalten junger Frauen und Männer hat sich seit den 70er Jahren nicht wesentlich verändert.
Eines hat sich aber verändert: Der überwiegende Teil der jungen Generation möchte Beruf und Familie partnerschaftlich teilen. Mehr Frauen wollen ihre gute Ausbildung für mehr Aufstiegschancen und Teilhabe im Beruf nutzen und trotzdem Kinder haben – immer mehr Männer wollen mehr Freiraum, um sich neben Beruf und Karriere um ihre Kinder zu kümmern und ihre Partnerin bei der familiären Sorge zu entlasten.
Kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit
Dieses Lebensmodell können aber nur wenige Paare umsetzen. Solange das Partnerschaftsmodell durch Arbeits- Sozial- und Steuerrecht sowie immer noch fehlende Ganztagsbetreuung insbesondere für Schulkinder strukturell benachteiligt wird und die Vereinbarkeitsfrage fast ausschließlich den Frauen zugeschrieben wird, ist die vollständige Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt in weiter Ferne.
Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit. Zwar haben wir in dieser Wahlperiode dank der Hartnäckigkeit der SPD viel erreicht, aber wir könnten weiter sein, hätten CDU und CSU nicht wichtige Bausteine wie z.B. das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit oder die Entgeltgleichheit blockiert oder verzögert. Dabei war kein Argument zu plump. Wenn gar nichts mehr half, kam das Totschlagargument „Bürokratiekosten“.
Gleichstellung ist ein Wirtschaftsmotor
Gleichstellung ist aber keine Frage der Kosten sondern eine Frage der Gerechtigkeit. Diese Argumentation verkennt auch, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern ein Gewinn für alle ist: für Frauen und Männer, aber auch für Wirtschaft und Gesellschaft. Zahlreiche Studien belegen, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auf dem Arbeitsmarkt enorme Wachstumspotentiale mit sich bringen würde.
Wer wie große Teile der Unionsparteien und der Wirtschaft, aber auch wie die FDP oder die AfD Verbesserungen bei Gleichstellung von Frauen und Männern blockiert oder das Vorhandensein von Benachteiligungen von Frauen schlicht leugnet, schreibt nicht nur alte Ungerechtigkeiten fort, sondern handelt auch ökonomisch unvernünftig. Die vollständige Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen ist die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Gesellschaft.
Altmaiers Etikettenschwindel
Um dies zu erreichen, brauchen wir ein breites gesellschaftliches Bündnis von Frauen und Männern und ein klares Bekenntnis zum Feminismus. Bloße Lippenbekenntnisse wie jüngst von Peter Altmeier, der sich selbst als Feminist sieht, helfen nicht weiter. Wenn er während der vergangenen vier Jahre in seiner Funktion als Chef des Kanzleramtes die gleichstellungspolitische Projekte unterstützt statt blockiert hätte, dürfte er sich zu Recht einen Feministen nennen. So ist das allerdings nichts anderes als Etikettenschwindel und wahltaktische Effekthascherei.
Die Zeit ist jetzt reif für einen Aktionsplan „vollständige Gleichstellung bis 2030“ mit verbindlichen Zielen und der Bündelung von Maßnahmen, die die strukturellen Benachteiligungen abbauen und die Gleichstellung fördern.
Dazu gehören insbesondere das Rückkehrrecht von Teilzeit zur früheren Arbeitszeit, die Weiterentwicklung des Lohntransparenzgesetzes zu einem Entgeltgleichheitsgesetzes mit Verbandsklagerecht, die Ausweitung der Sogenannten Frauenquote auf die Aufsichtsräte von mehr Unternehmen sowie auf die Vorstände, ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft, ein geschlechtergerechtes Steuersystem, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung sowie eine Reform der Minijobs, die Einführung einer Familienarbeitszeit, die Aufwertung der sozialen Berufe, eine Reform der verschulten Ausbildungsgänge verbunden mit der Abschaffung von Schulgeld und der Zahlung von Ausbildungsvergütung, die Überwindung alter Rollenzuschreibungen.
Gleichstellung ist wählbar
Schon diese nicht vollständige Aufzählung der Maßnahmen macht klar, dass es nicht DIE eine Maßnahme gibt und dass Gleichstellungspolitik eine echte Querschnittsaufgabe ist. Und sie ist eine Aufgabe, die die Lebenssituation der alleinerziehenden Verkäuferin genauso im Blick haben muss wie die der kinderlosen Akademikerin. Gleichstellung ist wählbar – am 24. September.
ist Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrates. Von 2013 bis 2017 war sie Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ferner war Mitglied im SPD-Parteivorstand sowie ASF Bundesvorsitzende.