Unter einem Hut
Wer montags im Botanischen Volkspark in Pankow unterwegs ist, hat gute Chancen, Familie Nikolenko über den Weg zu laufen. Am Tiergehege füttert Martha (2,5 Jahre) gerne Rehe. Denn Montag ist der Familientag der dreiköpfigen Berliner Familie. Der Vater ist Polizist und muss an den meisten Wochenenden arbeiten. Mutter Juliane Nikolenko ist ebenfalls berufstätig, sie arbeitet in der Personalabteilung der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Als sie nach einem Jahr Elternzeit wieder anfing zu arbeiten, wurde der Schichtdienst ihres Mannes zur Belastung.
„Wir haben uns kaum noch gesehen, das Familienleben blieb auf der Strecke“, sagt die 35-Jährige. Die Nikolenkos erlebten, wie anstrengend der Spagat zwischen Privatleben und Beruf sein kann. Damit stehen sie nicht alleine da. So hat von den 1,7 Millionen Familien mit Kindern in Deutschland unter drei Jahren die Hälfte große oder sehr große Probleme, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bringen. Das hat eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ergeben.
Keine Zeit für Zweisamkeit
Für die Rehe im Volkspark hatten Nikolenkos nach der Elternzeit selten Zeit. Für Zweisamkeit der Eltern ebensowenig. Das ist anders, seit die Mutter ihre Stelle befristet reduziert hat. Auf 30 Stunden wöchentlich, so dass sie montags frei hat. An dem Tag kann auch ihr Mann nach einem durchgearbeiteten Wochenende gut freinehmen. Seitdem ist die Welt bei Nikolenkos wieder in Ordnung.
Macht ein Tag wirklich so viel aus, sind neun Stunden weniger die Woche so ein Riesenunterschied? Ja, sagt Juliane Nikolenko. Und schildert neuerdings typische Montage in der Familie: „Manchmal geht Martha in die Kita und mein Mann und ich haben Zeit füreinander. Gehen einfach einen Kaffee trinken und reden.“ Oder sie machen zu dritt einen Familienausflug, in den Park oder in die Schwimmhalle.
Ein Grund, warum die Personalvermittlerin entspannt sein kann, ist ihr Arbeitgeber: Die BVG hat sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf die Fahne geschrieben. „Wir reagieren flexibel auf veränderte Lebensumstände der Beschäftigten“, wirbt die BVG auf ihrer Homepage. Seit 2009 darf sich das Unternehmen mit derzeit 11 000 Beschäftigten mit dem Zertifikat „Beruf und Familie“ schmücken. 60 konkrete Maßnahmen hat der Hauptstadt-Betrieb umgesetzt. Dazu gehören neben speziellen Schichtplänen für Eltern, Infotagen und Familienfesten auch vier Wochen zusätzlicher Mutterschutz.
Wer bei der BVG schwanger wird, darf also schon zehn Wochen vor dem errechneten Geburtstermin nach Hause gehen und nicht sechs Wochen zuvor, wie es der Gesetzgeber vorsieht. „So erreichen wir eine bessere Planbarkeit – für Arbeitnehmer und Arbeitgeber“, erklärt Mark Prévoteau, der als Hauptsachbearbeiter Personal für den Bereich Beruf und Familie zuständig ist. Die Firma beobachtete, dass eine nicht unerhebliche Anzahl werdender Mütter aus gesundheitlichen Gründen schon vor dem Mutterschutz krankgeschrieben wurde. Das verursachte Pobleme bei der Übergabe und verunsicherte Betroffene und Kollegen. „Von der neuen Regelung haben alle etwas“, so Prévoteau.
Denn Firmen sind nicht nur uneigennützig familienfreundlich. Es geht auch darum, ein attraktiver Arbeitgeber zu sein – insbesondere in Zeiten wachsenden Fachkräftemangels. Auf jeder Stellenanzeige der BVG prangt das Zertifikat „Beruf und Familie“.
Tanz auf zwei Hochzeiten
„Wir haben eigentlich jede Teilzeit-Variante im Betrieb“, so Prévoteau, der selbst inzwischen Teilzeit arbeitet, weil er ein zusätzliches Studium absolviert. Er erzählt: „Seitdem verstehe ich Familien noch besser: Wie anstrengend es sein kann, wenn man auf zwei Hochzeiten tanzt.“ Wenn etwa eine Klausur vorbereitet werden muss, während auf der Arbeit die Hölle los ist; wenn die Kommilitonen sich während seiner Arbeitszeit zum Studienkreis treffen wollen. „Es geht nicht nur um Organisation, sondern auch darum, gleichzeitig verschiedene Dinge im Kopf zu haben. Das ist manchmal kräftezehrend“, urteilt der junge Mann. .
Das haben inzwischen auch Gewerkschafter und Politiker erkannt, die an Mitteln und Wegen arbeiten, die sogenannte „Sandwichgeneration“ zu entlasten. „Die SPD muss der Anwalt der gehetzten Generation werden“, fordert Parteichef Sigmar Gabriel. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles sieht inzwischen auch die Vollzeitarbeit zweier Partner kritisch, „die über Jahre die Zielvorstellung, ja geradezu die Idealisierung der SPD gewesen“ sei.
An Lebensphasen orientieren
Das Wort „Lebensphasen“ gewinnt an Bedeutung. Die Erkenntnis ist da, dass es Zeiten gibt, in denen mehr gearbeitet wird, und andere, in denen der Job etwas in den Hintergrund tritt – etwa zugunsten der Fürsorge für Kinder oder Pflegebedüftige. Ein gesetzliches Recht auf Teilzeit gibt es bereits, in diesem Jahr soll auch ein Rückkehrrecht auf die volle Stelle gesetzlich verankert werden. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig hat als mittelfristiges Ziel eine Familienarbeitszeit vor Augen: zeitweise Stundenreduzierung ohne finanzielle Verluste (siehe Interview auf Seite 8). Im Blick sind dabei aber längst nicht nur Eltern kleiner Kinder. Das war noch so vor rund zehn Jahren, kurz bevor das Elterngeld eingeführt wurde, als der flächendeckende Kitaausbau noch DIE große Aufgabe der Familienpolitik war.
„Da hat sich viel getan“, beobachtet Frank Meissner zufrieden. Er leitet beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) das Projekt „Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestalten“. Vor rund zehn Jahren hat der DGB sich des Themas angenommen, keine leichte Aufgabe in einem männerdominierten Umfeld. In den Anfangsjahren ging es noch hauptsächlich um Kinderbetreuung, der DGB förderte Betriebskitas und Kooperationen von Kommunen und Arbeitgebern im Bereich Betreuung.
Inzwischen hat sich der Ansatz verschoben. „Partnerschaftliche Vereinbarkeitslösungen fördern“ lautet der Titel der neuen Projektphase ab 2015. „Es geht darum, das Private stärker in die Politik zu bringen“, so Meissner. Arbeitszeitmodelle müssten sich individueller Lebensgestaltung anpassen. Und zwar unabhängig vom klassischen Familienmodell. Auch wenn Eltern besonders häufig Druck von allen Seiten ausgesetzt sind, sind sie nicht die Einzigen. Davon kann Angelika Gesch ein Lied singen.
Die 50-jährige Busfahrerin aus Berlin kümmert sich um ihre pflegebedürftigen Eltern, unterstützt von ihrer ebenfalls berufstätigen Lebenspartnerin. Bei dem üblichen Fahrer-Rhytmus der Verkehrsbetriebe, nämlich sechs Tage Arbeit, zwei Tage frei, blieb Gesch keine Zeit mehr für sich selbst. Arbeiten und Eltern, das war monatelang ihr Alltag, den sie einfach nicht mehr bewältigen konnte. Eine starke Reduzierung der Arbeitszeit kam aber auch nicht in Frage: „Dann hätte das Geld nicht mehr gereicht“, so Gesch. Zumal es beim Gehalt auch um spätere Rentenansprüche geht. .
Ein Gespräch mit dem Vorgesetzten zum Ausweg: Gesch arbeitet nun fünf Tage die Woche und hat drei Tage frei. Gleichzeitig ist ihr Vater ins Heim umgezogen. Beide Maßnahmen zusammen haben ihr Leben beruhigt. Finanziell kommt sie noch hin, und sie hat endlich wieder ein Privatleben. „Ich hatte ja gar keine Zeit mehr, meine Freundschaften zu pflegen. Mir war alles über den Kopf gewachsen“, erzählt Gesch. Langeweile kommt bei ihr immer noch nicht auf: „Man jongliert natürlich, aber ich habe wieder Zeit, Kraft zu tanken.“