Debatte

Pro Regelschule: „Der Zwei-Hochzeiten-Tanz muss aufhören“

Weil der Erhalt von Förderschulen wichtige finanzielle Ressourcen bindet, ist der gemeinsame Unterricht vielerorts nur spärlich ausgestattet. Für die inklusive Bildung in Regelschulen fehlt es deshalb an sachlichen und personellen Ressourcen.
von Lisa Reimann · 29. Oktober 2015
Regel- oder Förderschule?
Regel- oder Förderschule?

Es war mehr oder weniger Zufall, dass ich auf der ersten staatlichen Grundschule, die Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtete, landete. Durch meine Schulzeit an der Fläming-Grundschule in Berlin hatte ich Kontakt zu Kindern, die anders waren als ich selbst. Ich kannte von klein auf Kinder, die plötzlich laut schrien, Kinder die sich anders mitteilten als durch Sprache und Kinder, deren Spuckfaden aus dem Mund fast bis zum Boden reichte. Diese Kinder hatten Namen und Eigenheiten wie alle. An manche Kinder erinnere ich mich gut, an andere nicht – unabhängig von Behinderung, denn diese war nichts Spektakuläres. 

Wir wussten, dass es Verhaltensweisen bei Mitschülern gab, die wir vordergründig erst mal nicht verstanden. Wir wussten, dass die Art oder Ausdrucksweise für das Kind (ob mit oder ohne Behinderung) Sinn macht, auch wenn sie uns unverständlich erschien. Und wir haben gelernt, dass es in Ordnung ist, wenn wir die Bedeutung nicht immer verstehen. Das ermöglichte uns einen ganz anderen Zugang, als ein Kind einfach als behindert, gestört oder verrückt abzustempeln. Die diskriminierungsfreie Begegnung stand im Vordergrund.

Getrennte Welten nehmen Teilhabechancen

Und darum geht es auch beim menschenrechtlichen Inklusionsgedanken. Der Abbau von Förderschulen hat den menschenrechtlichen Sinn, Ungerechtigkeiten etwas entgegen zu setzen. Eine Vielzahl an Forschungsbefunden hat gezeigt, dass Kinder an Förderschulen schlechter lernen und ihr Selbstkonzept leidet (vgl. Schumann). Durch die getrennten Sonderwelten werden Menschen mit Behinderungen wichtige Teilhabechancen genommen und Diskriminierungen befördert. Studien zeigen, dass Kinder mit Behinderung in inklusiven Settings mehr lernen. Ihre Chancen auf einen Schulabschluss und weitere berufliche Perspektiven steigen. Durch gute inklusive Bildung wird allen Kindern vermittelt, dass niemand aufgrund eines Merkmals ausgeschlossen wird. Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und Inklusion werden zu erlebbaren Werten.

Deutschland hat sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen. Die verantwortlichen Politiker stehen in der Pflicht, das Inklusionsrecht von Kindern mit Behinderungen zu verwirklichen. Doch anstatt die Ärmel hochzukrempeln und die notwendigen Schritte anzugehen, verhält sich die Politik zögerlich. Mit fatalen Folgen: „Kein Bundesland erfüllt alle im Recht auf inklusive Bildung angelegten Kriterien“ – so die Monitoring-Stelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Denn so lange Förderschulen weiter in der hohen Anzahl bestehen, ist die Umgestaltung des Schulsystems grundlegend gefährdet.

Anstrengungen in Deutschland reichen nicht

Der Erhalt der Sonderschulen bindet wichtige finanzielle und personelle Ressourcen, die dringend für die Inklusion in Regelschulen benötigt werden, so der Datenreport Update Inklusion der Bertelsmann Stiftung von 2014. Auch die Monitoring-Stelle warnt in ihrem „Parallelbericht“ von 2015: „Das Festhalten an einer Doppelstruktur behindert den im Vertragsstaat erforderlichen Transformationsprozess, in dessen Zuge die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der sonderpädagogischen Förderung in die allgemeine Schule verlagert werden könnten“. Der gemeinsame Unterricht ist vielerorts spärlich ausgestattet. Es fehlt an räumlichen, sächlichen und personellen Ressourcen.

Der UN-Fachausschuss in Genf zur Überprüfung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, der am 26. und 27. März 2015 tagte, stellt in der Staatenberichtsprüfung fest: „Es scheint, dass prioritär in Förderschulen investiert wird – zu Lasten der inklusiven Bildung.“ Dieses Ungleichgewicht benachteiligt vor allem Kinder mit Behinderungen, die weniger Bildungschancen im Förderschulwesen haben. Auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen verhindert offensichtlich den Aufbau eines gut ausgestatteten inklusiven Bildungswesens. Wenn wir damit beginnen würden, Förderschulen zu schließen und frei werdende Ressourcen der inklusiven Bildung zukommen zu lassen, kämen wir endlich voran. Um das Recht auf Inklusion umzusetzen, muss der Zwei-Hochzeiten-Tanz aufhören. Denn, wie der US-amerikanische Psychologe Julian Rappaport 1985 treffend schrieb: „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz!“

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Autor*in
Lisa Reimann

ist freie Dozentin und Bloggerin. Auf inklusionsfakten.de stellt sie Vorbehalten gegenüber inklusiver Bildung Fakten, Best-Practice-Beispiele, die Menschenrechtsperspektive und Quellen zu Bildungsstudien entgegen.

2 Kommentare

Gespeichert von Thomas Mingos (nicht überprüft) am Mi., 31.01.2024 - 11:10

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Guten Tag Frau Reimann,
Ich hätte eine kurze Frage bezüglich des Fortschrittes der in diesem Artikel gegliederten Maßnahmen zur besseren Inklusion von behinderten Menschen in Deutschen Regelschulen. Finden Sie, dass Deutschland wenn es um Inklusion geht Fortschritte gemacht hat über die Zeit zwischen der Veröffentlichung dieses Artikels und der Gegenwart oder finden Sie das Deutschland noch mehr machen könnte und härter durchgreifen könnte? Was ist Ihre Meinung dazu?
Über eine Rückmeldung würde ich mich sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Mingos

Gespeichert von Kai Doering am Mi., 31.01.2024 - 13:29

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Bitte kontaktieren Sie Frau Reimann zur Beantwortung Ihrer Frage direkt: https://www.indiwi.de/das-ist-indiwi/team/