Debatte

Nicht Herkunft soll entscheiden

Globalisierung und Flucht verändern den Heimatbegriff, Massenproduktionen verdrängen das Unverwechselbare vieler Orte. „Die“ Heimat verschwindet – und sollte anders definiert werden.
von Christian Schüle · 30. August 2018
Eine deutsche und eine türkische Flagge an einem Wohnhaus
Eine deutsche und eine türkische Flagge an einem Wohnhaus

Heute über Heimat zu sprechen heißt vor allem, über ihren Verlust zu reden. Man kann Heimat auf vielfältige Weise verlieren: materiell-leiblich durch Flucht und Vertreibung, virtuell-psychisch durch Veränderung und Entfremdung. Die äußere Heimat – der Boden, der Wald, das Land, der Raum – ist faktisch nach wie vor da, die innere Heimat aber nicht mehr. Wenn innere und äußere Heimat nicht ineinandergreifen, treten Verlustgefühle und mit ihnen Verlustängste auf.

Das Vergangene und das Bleibende

Heimat geht verloren, wenn die Ströme des Global Lifestyle einer standardisierten Waren- und Güterproduktion die immergleichen Produkte immergleicher Anbieter immergleicher Mutterkonzerne in die letzten Nischen des Landes einschwemmen. In den Kulissen der Standardisierung verlieren Orte und Dörfer ihre Unverwechselbarkeit: das, was sich stets von selbst verstand und ohne Erklärung sofort verstehbar war, wofür es keiner mühsamen Dechiffrierung bedurfte.

Jeder Mensch hat eine eigene Heimat, und diese ihm allein eigene Heimat ist das Einzige, das – in einer Zeit, da so gut wie alles disponibel geworden ist – nicht zur Disposition steht. Mit jedem Schwund eingelebter Gewohnheit aber – der Lieblingsbäcker schließt, das Stammcafé macht dicht, das Programmkino gibt auf, Gasthöfe verwaisen, soziale Begegnungsstätten verwahrlosen – wird eine Koordinate der Selbst-Verortung preisgegeben. Traditionen und Rituale sterben, wenn sie nicht mehr in die Zukunft übersetzt werden. Schließlich geht das Gefühl von Vertrauen, Vertrautheit und bedingungsloser Anerkennung verloren.

Das Eigene und das Fremde

Die Reaktionen auf den empfundenen Verlust der inneren Heimat als Geborgenheitsraum tragen seit einiger Zeit Züge einer Revolte. Heimat ist aus dem vorpolitischen Raum herausgelöst aufs Neue zu einer politischen Kategorie geworden. Wiederentdeckt wird die Über-Schaubarkeit des Reviers, die Behaglichkeit der Scholle. Wer seine Heimat, sein Land, seine Herkunft für die beste der Welt hält, verschafft sich zwar das Wohlgefühl ­einer fiktiven Selbstbeheimatung, liefert andererseits aber auch einen Schlachtruf für die vermeintliche Überlegenheit des Eigenen gegenüber dem Fremden. Diese ist durch nichts weiter gerechtfertigt als durch die subjektive Sehnsucht nach kostenloser Selbstwertsteigerung.

Heimatbeschwörung heißt dann schnell Heimatschutz, und Heimatschutz bedeutet ebenso schnell Revierschutz: die versprochene Verteidigung des eigenen Raums vor einer als Bedrohung empfundenen Invasion des Fremden an sich. ­Revierschützer zielen auf Homogenität und Reinheit, gedacht wird biologisch (oder schlimmer: genetisch), als wären die Deutschen als gottgegebene Essenz vom Himmel gefallen und nicht das ­Produkt unzähliger Wanderungsprozesse über die Jahrtausende hinweg.

Das Hier wird zu einem Wir

Die Weltgeschichte, scheint es, vollzieht gerade ihren nächsten Sprung: in eine Epoche permanenter Migration durch unsteuerbare Grenzverluste realer wie virtueller Natur. In der verdörrten Subsahara warten Millionen auf den Aufbruch, und das World Wide Web verdichtet alle Räume zu einem Weltinnenraum. Wäre es angesichts dieser Realität nicht ein Gebot der Klugheit, den Begriff ­„Heimat“ zu erweitern und im Plural zu denken, anstatt ihn für politische Ziele zu instrumentalisieren? Heimat wäre künftig nicht mehr ethnisch, sondern kulturell und sozial definiert. So verstanden könnte man unter Heimat das geistige Obdach jener Wert- und Normvorstellungen einer Gesellschaft begreifen, die durch gemeinsame Gewohnheiten formuliert werden.

Gelebter Alltag ist gelebte Leitkultur. Teilhabe an einem gemeinsamen Projekt ruft immer auch selbstverpflichtende Verantwortung im Einzelnen hervor. Verantwortung stärkt die soziale Gesinnung und motiviert zur Loyalität für das Gemeinwohl. Das Hier wird zu einem Wir durch gesellschaftliche Selbsterfahrung und alltägliche Praxis. Die Zugehörigkeit zu einem Verbund hängt vom Willen, vom aufgeklärten Wissen und klaren Bekenntnis ab, nicht aber von Herkunft und Abstammung. Heimat bildet sich weder durch nostalgische Beschwörung der Vergangenheit noch durch staatlich geförderte Folklore aus, sondern als dynamischer kultureller Prozess, in den sich jeder einschreiben kann, der die Regeln achtet. So gesehen wäre Heimat doch das Gefühl, zu brauchen und gebraucht zu werden. Heimat ist, was sich bewährt.

Autor*in
Christian Schüle

ist Buchautor und Journalist.

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