Debatte

Fremd – und doch zu Hause

Neue Heimat Was es braucht, um ein Zuhause zu schaffen? – Offenheit, Neugier und Glück.
von Hernán D. Caro · 4. Oktober 2018
Hernán D. Caro
Hernán D. Caro

Fühlst du dich in Deutschland überhaupt zu Hause?“, fragte mich vor ein paar Jahren ein guter Freund aus Kolumbien, als er mich in Berlin besuchte. Kurz zuvor, nach vielen Jahren in Deutschland, hatte ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen – wofür ich auf meine kolumbianische ­verzichten musste. Mein Freund wollte verstehen, welche Motive, abgesehen von rein praktischen Vorteilen, mich zu diesem Schritt bewogen hatten.

Ob ich Deutschland als mein Zuhause betrachte? Die Frage versteckt eine allgemeinere: Kann man sich an einem anderen Ort, als dem, wo man geboren wurde und große Teile seines Lebens verbracht hat, wirklich zu Hause fühlen? Kann man die tiefe Verbundenheit, die man an Geburtsort, Familie, Muttersprache und erste Erinnerungen koppelt – jenes Heimatgefühl also, über das Deutschland zurzeit inbrünstig diskutiert – auch in der Fremde erleben?

Heimat als Mantel der Geborgenheit

Es mag befremdlich wirken, sich vorzustellen, man könne Gefühle, die einen früh und gründlich prägten, in verschiedenen Lebenswelten empfinden – so wie man, sagen wir mal, sich einen neuen Hut aufsetzt. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich: Es ist möglich. Dabei wäre die Erfahrung weniger mit dem Wechsel eines Hutes zu vergleichen als mit dem Vorgang, langsam, geduldig, mit viel ­Hilfe von anderen, einen Mantel für sich zu weben, der sich fast wie eine zweite Haut anfühlt.

Aus Lieben und Freundschaften, die mich begleitet haben; aus Wohnungen und Städten, in denen ich wohnte; aus Erlebnissen, guten und schlechten – im Laufe meiner Jahre in Deutschland, inzwischen fast 20, konnte ich einen Mantel nähen, der mir oft etwas gibt, das ich zum ersten Mal von meiner Familie bekam: das Gefühl, geborgen zu sein und dazuzugehören, nicht erklären zu müssen, wie ich bin oder fühle, dass ich manchmal gerne allein bin oder schweigsam und nachdenklich und dann plötzlich wieder heiter – denn zu Hause wird man ohne Warum geschätzt.

Man kann sich ein neues Zuhause erschließen

Zuhause, ganz sicher, ist meist die Welt, aus der man kommt. Aber man kann sich ein neues Zuhause erschließen. Es dauert lang, es braucht gegenseitige Offenheit und Neugier – und Glück. Leicht ist das Leben im neuen Zuhause nicht immer. Es gibt Enttäuschungen, Momente großer Einsamkeit, etwa wenn in einem vollen Zug ein Polizist mit misstrauischem Blick mich, und nämlich nur mich, eisig nach meinem Pass fragt – was immer wieder geschieht – oder an dem Tag vor vier Jahren, als meine Großmutter, bei der ich zum ersten Mal Geborgenheit erlebte, in Kolumbien starb und sich meine Trauer mit einem Gefühl der Irrealität vermischte. Doch in welchem Zuhause gibt es keinen Kummer?

Damals zeigte ich meinem Freund Dinge, die mich in Deutschland begeistern oder irritieren. Er lernte Menschen kennen, die für mich mit den Jahren zu einer neuen Familie wurden; Bibliotheken, in denen ich einiges über dieses Land lernte; Berliner Seen, in denen ich gerne schwimme. Er hörte Anekdoten aus ­meinen Leben in Deutschland; er erfuhr, dass ich von jenem alten Zuhause, das wir noch teilen, immer noch vieles schrecklich vermisse, aber auch, dass ich mich immer freue, zurück nach Berlin zu kommen. Das war meine Antwort auf seine Frage.

Autor*in
Hernán D. Caro
Hernán D. Caro

Hernán D. Caro (geb. in Bogotá, Kolumbien, 1979): Doktor der Philosophie (Humboldt-Universität zu Berlin) und Journalist, schreibt für Kultur­medien in Deutschland und Kolumbien.

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