Debatte

Frankreich: Warum die Suche nach der französischen Identität schief ging

In Deutschland fordern viele eine Leitkultur, oder zumindest eine Debatte darüber. Frankreich hat Erfahrung mit organisierten Identitäts-Debatten – und zeigt, wie man es eher nicht machen sollte.
von · 10. März 2016

Die sogenannte Flüchtlingskrise hat in den letzten Monaten erstaunlichen vielen Begriffen zu einer Renaissance verholfen: Einwanderungsland oder Leitkultur, zum Beispiel. Fast täglich ist irgendwo zu hören oder zu lesen, Deutschland brauche dringend eine Leitkultur – denn ohne Leitkultur keine Integration der täglich ankommenden Flüchtlinge. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, Deutschland befinde sich in einer veritablen Identitätskrise. Was ist deutsch? Was nicht? Was gehört zur deutschen nationalen Identität?

Nationale Identität und Immigration

Im benachbarten Frankreich hat die Debatte über französische Identität seit den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ und mehrere Orte in Paris 2015 wieder an Fahrt aufgenommen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht schon seit Jahren intensiv geführt würde. Ex-Präsident Nicolas Sarkozy sah in der Angelegenheit eine solche Dringlichkeit, dass er 2009 eine nationale Debatte über französische Identität verordnete. Für die Bürgerinnen und Bürger wurde das Online-Forum debatidentitenationale.fr eingerichtet, in dem sie drei Monate lang – vom 2. November 2009 bis 31. Januar 2010 – diskutieren sollten. Oder durften? Alternativ gab es Diskussionsrunden auf lokaler Ebene. Im Mittelpunkt standen dabei zwei Fragen: Was es heute bedeutet, Franzose zu sein und inwiefern Immigration zur nationalen Identität beitragen könne.

Wenig überraschend kaperte der rechtsextreme Front National unter dem damaligen Chef Jean-Marie Le Pen die Debatte. Le Pen begrüßte die Regierungsinitiative ausdrücklich und verkündete: „Es ist Zeit, die patriotische Revolution zu starten. Es ist Zeit, dass dieses Land zu seinen Ursprüngen zurückkehrt – von denen es durch eine massive Einwanderung abgekommen ist. Es gibt zu viele Einwanderer in unserem Land.“ Worte, die heute auch von einer Beatrix von Storch stammen könnten. Ungefähr 15 Prozent der Einträge im Online-Forum mussten gelöscht oder zensiert werden, weil sie beleidigend und/oder rassistisch waren.

Ideologisch aufgeladene Debatte

Die Ergebnisse der von der Regierung verordneten Debatte waren dann spektakulär unspektakulär. Gefunden werden sollte „die“ französische Identität, heraus kamen dabei von Premierminister François Fillon präsentierte Maßnahmen wie diese: Auf allen öffentlichen Schulen Frankreichs sollte künftig die Trikolore wehen – das tat sie aber sowieso bereits fast überall. Oder: Die Marseillaise sollte künftig in allen Schulen mindestens einmal pro Jahr gesungen werden, außerdem sollten Schülerinnen und Schüler ein carnet du jeune citoyen erhalten, eine Broschüre für französische Jungbürger also – Erziehung zum Staatsbürgertum.

Was hat die Regierungsinitiative letztendlich gebracht? Nicht besonders viel. Die Debatte war ideologisch aufgeladen, oft gerieten in Frankreich lebende Ausländer und Muslime ins Kreuzfeuer von undifferenzierter Kritik und Ausschreitungen. Außerdem begriffen viele Bürgerinnen und Bürger die Debatte als genau das, was sie war: eine Wahlkampftaktik. Denn im März 2010 fanden in Frankreich Regionalwahlen statt – bei denen allerdings die oppositionellen Sozialisten und der Front National triumphierten, nicht Sarkozys Partei UMP (heute: Les Républicains, dt. Die Republikaner).

Identität kann man nicht anerziehen

Nun ist Frankreich nicht Deutschland – die Regierung von Angela Merkel käme kaum auf die Idee, dem Land eine Leitkultur-Debatte zu verordnen. Und das ist gut so, denn das Beispiel Frankreich zeigt: Öffentlich über nationale Identität zu diskutieren ist zwar möglich und das ist gut so. Zielführend ist das Ganze aber meistens nicht. Denn Identität ist mehr als etwas, was sich in schlichten Formeln und Forderungen ausdrücken lässt. Eine auf dem Schuldach wehende Trikolore macht keine französischen Bürgerinnen und Bürger. Identität kann man nicht anerziehen, Identität entwickelt sich. In Zeiten, in denen AfD und Rechte in Deutschland Stimmung gegen Flüchtlinge machen und viele eine deutsche Leitkultur fordern, ist es umso wichtiger, sich daran zu erinnern.

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