Direkte Demokratie: Für eine programmatische Neuausrichtung
Die demokratiepolitische Debatte fokussiert sich in der Bundesrepublik sehr stark auf die direkte Demokratie, und hier vor allem auf die „Volksgesetzgebung“. Deren Einführung auf Bundesebene hat die SPD seit den 1990er Jahren wiederholt gefordert und dazu zwei Mal (2002 und 2013) konkrete Gesetzesentwürfe eingebracht. Die Volksgesetzgebung gibt den Bürgern – und das heißt de facto immer: einer Minderheit der Bürger – das Recht, im Wege eines Volksbegehrens ein bestimmtes Vorhaben notfalls gegen den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers durchzusetzen. Dies steht im Widerspruch zum Repräsentationsmodell des parlamentarischen Systems, das der regierenden Mehrheit die Gestaltungshoheit zuweist, während die Opposition als Minderheit gerade nicht regieren kann und soll. Deshalb macht es keinen Sinn, ihr eine solche Möglichkeit durch die „Hintertür“ der Plebiszite einzuräumen.
SPD: Erfinderin der „Volksgesetzgebung“
Der Primat der parlamentarischen Repräsentation (im Sinne einer bloß „ergänzenden“ Funktion der Plebiszite) kann bei den von unten ausgelösten Verfahren deshalb nur gesichert werden, wenn deren Inanspruchnahme durch Themenausschlüsse, hohe Quoren und sonstige Regeln so stark eingeschränkt wird, dass die direkte Demokratie in der Praxis kaum zum tragen kommt. Wie die Erfahrungen in den Ländern und Kommunen zeigen, ist damit ein Dauerstreit um die Öffnung oder Schließung der Verfahren vorprogrammiert, der am Ende weder der direkten noch der repräsentativen Demokratie nützt.
Die SPD trägt an der Fixierung der Verfassungsgebung auf die von unten ausgelösten Verfahren einen großen Anteil, denn sie hat die Volksgesetzgebung im 19. Jahrhundert mit erfunden. Diese stammt mithin aus einer Zeit, in der das parlamentarische Regierungssystem noch in weiter Ferne stand. Spätestens mit dessen 1918 erfolgten Einführung war die Notwendigkeit eines plebiszitären Korrektivs der Gesetzgebung aus demokratischer Sicht eigentlich nicht mehr gegeben. Dennoch ist der ursprüngliche Pfad niemals aufgegeben worden. Deshalb griff man nach einer langen Phase der plebiszitären Enthaltsamkeit ab Ende der 1980er Jahre, als die Funktionsschwächen der repräsentativen Parteiendemokratie den Ruf nach mehr direkter Demokratie lauter werden ließen, in den Bundesländern wie selbstverständlich auf das tradierte Instrument der Initiative zurück.
Vetoinitiative: eine „Verschlimmbesserung“
Weil die Volksgesetzgebung heute in allen Bundesländern und Kommunen existiert (dort als Bürgerbegehren und -entscheid), ist sie als „Modell“ auch für den Bund automatisch gesetzt. Um dieses Junktim – also die Verbindung gesetzlicher Regeln – zu durchbrechen, muss eine programmatische Neuausrichtung den Unterschied zwischen beiden Ebenen deutlich machen. Am besten geeignet ist dafür der Verweis auf die größere Komplexität der Entscheidungsmaterien auf Bundesebene. In den Ländern kann es nicht darum gehen, die Volksrechte abzuschaffen oder stillzulegen; hier müssen die Verfassungsgeber bei deren Ausgestaltung mit den beschriebenen Problemen zurechtkommen. Im Bund würde die Volksgesetzgebung dagegen wegen ihres föderalismusbedingt größeren potenziellen Anwendungsbereichs wesentlich gravierendere Konflikte im Verhältnis zum parlamentarischen Gesetzgeber heraufbeschwören.
Die SPD hat mit ihrem 2013 eingebrachten Gesetzesentwurf insofern eine Kurskorrektur eingeleitet, als sie neben der Volksgesetzgebung erstmals auch eine Vetoinitiative gegen beschlossene Gesetze („volksbegehrtes Referendum“) und ein Parlamentsreferendum vorgeschlagen hat. Was das Parlamentsreferendum angeht, ist das ein Fortschritt, was die Vetoinitiative betrifft, eine „Verschlimmbesserung“, da diese wegen ihres unmittelbar oppositionellen Charakters noch größere Probleme birgt als die „positive“ Initiative. Will man sich in Sachen direkte Demokratie glaubwürdig positionieren, führt an einem Verzicht auf die von unten ausgelösten Verfahren kein Weg vorbei. Auch dann gäbe es noch genügend Instrumente, die sich für eine plebiszitäre Ergänzung des Grundgesetzes eignen würden: ein obligatorisches Referendum bei bestimmten (nicht allen) Verfassungsänderungen, ein von einer Zweidrittelmehrheit auslösbares Gesetzesreferendum oder eine unverbindliche Volksinitiative, mit dem die Bürger den Bundestag zur Beratung eines Vorschlags aufzufordern könnten.