Die europäische Erinnerungskultur stärken
Das vergangene Jahr 2014 war reich an runden, historischen Jubiläen: 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 75 Jahre Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, 25 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall seien hier beispielhaft genannt. Auch das Jahr 2015 wartet mit bedeutenden Ereignissen der Geschichte auf: im Januar begingen wir den 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und den (erst) 1996 eingeführten Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Im Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal. Im Oktober können wir auf 25 Jahre Deutsche Einheit zurückblicken.
Gedenkpolitik muss Dialog unter Nachbarn fördern
„Wir“ bedeutet in diesem Zusammenhang mitnichten „wir Deutsche“, zumindest nicht ausschließlich. Das 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, zwei totalitären Regimen, aber auch der Demokratie- und Freiheitsbewegung war prägend für ganz Europa. Die Gedenkjahre 2014 und 2015 sind somit Chance und Herausforderung zugleich den Weg einer gemeinsamen, europäischen Erinnerungskultur zu beschreiten. Es ist die Aufgabe der Gedenkpolitik, nicht nur die Vergangenheit Revue passieren zu lassen, sondern im Dialog mit unseren europäischen Nachbarn Erkenntnisse zu ziehen aus einer Vergangenheit, die wir zwar gemeinsam durchlebt, bisweilen jedoch sehr unterschiedlich erlebt haben. Wolfgang Thierse spricht hier vom Leitbild der Vielfalt, das sowohl die Offenheit für Veränderung, für Neues, gar Fremdes, sowie die Fähigkeit zu Wert begründeten Entscheidungen umfasst. Will Europa dauerhaft als Friedensmacht und Solidargemeinschaft bestehen, braucht es eine gemeinsame Erinnerungskultur als Fundament. Sie ist das Sinn stiftende Element, das uns für die Zukunft, aber auch in der Zukunft stärken wird.
1989 in ganz Europa gedenken
Teilhabe, zweites Leitbild sozialdemokratischer Kulturpolitik, ist hier das Schlüsselwort. Das Trennende in der europäischen Bevölkerung hat nicht zuletzt eine kulturelle Dimension. Das kann jedoch mit einem gemeinsamen Blick auf die Vergangenheit überwunden werden, wenn die nationalen Erinnerungen gleichberechtigt nebeneinander treten, Berührungspunkte entdeckt werden und sich daraus ein neues Ganzes formt. Während beispielsweise das Gedenken an die beiden Weltkriege in allen europäischen Ländern begangen wird, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, Form und Akzentuierung, finden die friedliche Revolution und die Ereignisse des Jahres 1989 zumindest in Westeuropa weniger Beachtung. Hier beginnen sich die gemeinsamen Erfahrungen zu teilen. Während die Staaten im westlichen Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf Demokratie und Freiheit hoffen durften, setzte die Sowjetunion in Ostmitteleuropa neue diktatorische Regime ein. Die Freiheit begann für die Menschen in diesen Staaten erst 1989, fast vierundvierzig Jahre später. Spätestens mit der Osterweiterung der EU 2004 und der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens im Jahr 2007 gehört dieser Teil der Geschichte zu unserer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur und muss ebenso Eingang in unser gemeinsames Gedenken finden wie die vorangegangen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Hier sehe ich Deutschland in besonderer Verantwortung, denn die Teilung des Kontinentes verlief für uns nicht entlang der Staatsgrenze, sondern mitten durch unser Land hindurch, spaltete Dörfer und Familien. In unserer Geschichte vereinen sich beide Vergangenheiten.
Erinnerung im Geiste europäischer Versöhnung
Auch das dritte Leitbild ist für eine sozialdemokratische Gedenkpolitik zentral: die öffentliche Verantwortung. Im Koalitionsvertrag haben wir dazu mit der Union vereinbart, dass wir „das Verständnis für unsere gemeinsame europäische Geschichte weiterentwickeln (...) Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität kann mit anderen europäischen Partnern den Nukleus dafür bilden, Erinnerung und Gedenken im Geiste europäischer Versöhnung und Demokratie, Austausch und gemeinsame Projekte zu vertiefen.“ In diesem und nächsten Jahr ist genau der richtige Zeitpunkt, um diesen Auftrag umzusetzen. Dass der Bundeshaushalt für die Jahre 2014 und 2015 jeweils 300.000 Euro für das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität bereitgestellt hat, ist da nur konsequent. Auch der Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes ist hier zu nennen. Die Förderung des kulturellen Erbes im östlichen Europa leistet einen Beitrag zur kulturellen Identität Deutschlands und Europas. Wir beginnen jetzt damit, die Förderung des Bundes mit dem Ziel einer verstärkten europäischen Integration anzupassen.
„Mehr denn je Kommunikation, mehr denn je Aushandlungsprozesse“ – die Grundsätze sozialdemokratischer Kulturpolitik weisen den Weg hin zu einer europäischen Erinnerungskultur, an dessen Ende ein europäisches Gedächtnis steht. Eine Erinnerungspolitik, die sich daran orientiert, macht eine gemeinsame Zukunft unseres Kontinents möglich.
sitzt für die SPD im Bundestag und ist stellvertrende Sprecherin der AG Kultur und Medien.