Der lange Weg in ein selbstbestimmtes Leben
Thomas Koe hler/photothek.net
Mein Name ist Sara. Ich bin 21 Jahre alt und geboren in einer mittleren Großstadt, wie es viele in Deutschland gibt. Ich wurde mit Spasmen, die dazu führten, dass ich einen Großteil meines bisherigen Lebens im Rollstuhl verbracht habe, und einer Lernbehinderung geboren. Hier möchte ich die Geschichte erzählen, wie beides mein Leben beeinflusst hat und wie schwer es war, den scheinbar vorbestimmten Weg zu verlassen.
Ich wurde in die Förderklasse einer Schule für Menschen mit Körperbehinderung eingeschult. Bald war ich dort Klassenbeste, schrieb in dein meisten Fächern Einsen. Nur in Mathematik tat ich mich etwas schwer. Die Frage, ob ich es auch auf einer Regelschule schaffen würde, stellte sich trotzdem nie. Ich empfand das damals nicht als schlimm, fühlte ich mich doch wohl in der Umgebung. Allerdings hatte ich auch keine Ahnung, dass mir dadurch fast automatisch der Besuch einer Behindertenwerkstatt vorgezeichnet war. Wahrscheinlich dachten auch meine Eltern, das alles müsse so sein.
Gute Noten und doch kein Abschluss
Mit 17 verließ ich die Schule mit einem ziemlich wertlosen Förderschulabschluss in der Hand. Nun musste ich erfahren, dass meine Zukunft nicht in meinen eigenen Händen lag. Das Arbeitsamt vermittelte mir den Besuch eines Berufsbildungswerks in einer anderen Stadt. Erstmals in meinem Leben wohnte ich nicht zu Hause. Es war ein schwerer Schritt, doch immerhin erhielt ich die Möglichkeit – so dachte ich zumindest – meinen Hauptschulabschluss zu machen, um danach eine Berufsausbildung beginnen zu können. Die Eingewöhnung war schwierig, aber ich bekam von Anfang an gute Schulnoten. Ich habe mich durchgekämpft und schließlich in allen Fächern bestanden, selbst in Mathematik.
Trotzdem stand ich am Ende ohne Abschluss da. Der Grund dafür: Mein Jahr im Berufsbildungswerk hatte einen schulischen und einen praktischen Teil. Zu Beginn hieß es, beide Teile würden getrennt voneinander gewertet. Mit der Praxis tat ich mich schwer. Vielleicht war ich noch nicht so weit, vielleicht war die Umgebung nicht die richtige für mich, vielleicht konzentrierte ich mich auch einfach auf den Teil der Aufgabe, der mich meinem Ziel näher brachten: die Schule. Umso größer war die Enttäuschung, als ich wenige Wochen vor Ende des Jahres erfuhr, dass nur diejenigen einen Schulabschluss bekommen, die auch den praktischen Teil bestehen. Ich war enttäuscht, fühlte mich leer – ja, und auch ein wenig betrogen.
Eine Welt, in der Menschen mit Behinderung unter sich bleiben
Statt des Abschlusses, erhielt ich also eine Empfehlung für die Behindertenwerkstatt. Beim Amt ging dann alles ganz schnell. Obwohl ich inständig darum bat, meinen Schulabschluss in Angriff nehmen zu können, zeigte man mir keine Wege auf und drängte mich zur Unterschrift unter den Werkstattvertrag. Ich fühlte mich, als würde ich in eine andere Welt abgeschoben – eine Welt, in der Menschen mit Behinderung unter sich bleiben. Mich erwartete ein Leben ohne eigenes Einkommen – immer angewiesen auf den Hartz-IV-Regelsatz. Mit dem Amt konnte ich nicht rechnen – und auch meine Eltern wussten nicht, welche Alternativen es gab.
Dann kamen mir der Zufall und lieben Menschen zu Hilfe: Ich klagte mein Leid meiner Berliner Verwandtschaft und fand bald in meinem Cousin und später auch meiner Tante zwei Unterstützer für einen anderen Weg. Diese Hilfe war notwendig. Allein hätte ich es nicht gewagt, den vorgeschriebenen Pfad zu verlassen – und allein hätte ich nie die Auseinandersetzung mit den Behörden bestanden.
Das Amt fragte mich, was ich mit einem Schulabschluss will
Der erste Schritt war, meine Tätigkeit in der Werkstatt nicht anzutreten. Ich sagte drei Tage vor meinem ersten Arbeitstag dort ab. Die Überlegung war einfach: Wenn ich dort nicht anfange, müssten die zuständigen Ämter mich bei einem anderen Weg unterstützen. Doch so einfach war es dann leider doch nicht. Mein Cousin und ich organisierten für mich eine betreute Wohngemeinschaft in Berlin, in der ich die Möglichkeit bekommen sollte, ein eigenes, selbständiges Leben zu erlernen, um dann meinen Hauptschulabschluss in Angriff zu nehmen.
In der WG wohnte ich eine Woche zur Probe – und schließlich stellten mein Cousin und ich die nötigen Anträge beim Sozialamt meiner Heimatstadt. Wir sprachen dort vor und ich musste mich fragen lassen, was ich denn überhaupt mit einem Schulabschluss wolle. Ich solle doch einsehen, wo meine Grenzen sind und nicht versuchen, diese zu verschieben. Stellt euch vor, ihr seid gerade neunzehn und müsst euch so etwas anhören. Lediglich einen Platz in einer WG in meiner Heimatstadt – zwischen alten Leuten – und verbunden mit einem Werkstattplatz wollte man mir zugestehen. Ich hatte das Gefühl, dass man mich zwar angehört, mir aber nicht zugehört hatte.
Die mittlere Reife fest im Blick
Deshalb lehnte ich ab und das Sozialamt verschleppte meinen Antrag. Es kam ein halbes Jahr zu keiner Entscheidung. Der Rest war ein Gewaltakt. Meine Tante nahm mich in ihre Wohnung in Berlin auf. Ich war nun dort gemeldet und wir konnten die Anträge bei den entsprechenden Berliner Ämtern stellen. Die erste WG wurde abgelehnt, die zweite nach monatelangem hartem Ringen bewilligt.
Über viele Umwege – auch meine Familie in Berlin kannte sich in der komplizierten Materie ja nicht aus und wirkliche Hilfestellung gab es nicht – fanden wie schließlich sogar eine Schule für mich, in der ich meinen Hauptschulabschluss – inzwischen heißt sie ja „Berufsreife“ – in Angriff nehmen konnte. Seit September letzten Jahres gehe ich also wieder zur Schule. Das erste Halbjahr ist geschafft und auf dem Zeugnis habe ich Zweien in allen Fächern – auch in Mathematik. Das reicht sogar für die „erweiterte Berufsreife“. Wenn alles nach Plan läuft, hole ich ab Sommer die mittlere Reife nach. Und danach möchte ich eine Ausbildung machen, vielleicht zur Bibliothekarin. Ich liebe Bücher und ich würde gerne auch beruflich mit Büchern arbeiten.
Warum ich das alles aufgeschrieben habe? Ich möchte gern Menschen, denen es so ähnlich geht wie mir, ermutigen. Es gibt viel mehr Möglichkeiten, auch mit einer Behinderung ein selbstbestimmtes Leben zu führen, als es scheint. Und es gibt viele Wege, von denen man nichts weiß und von denen einem niemand erzählt. Das ist schade, weil damit jungen Menschen systematisch das Leben verbaut wird. Aber solange sich am System nichts ändert, muss jede und jeder eben selbst aktiv werden. Ihr schafft das auch!
(Name von der Redaktion geändert) macht zurzeit ihre Berufsreife. Über die Debatte „Warum wir Inklusion brauchen“ wurde sie auf den „vorwärts“ aufmerksam und schrieb ihre Geschichte auf – nachdem sie während eines Praktikums einen Einblick in die Arbeit der Redaktion bekommen hatte.