Debatte

Daniela Kolbe: SPD muss Hartz-IV-Debatte jetzt endlich führen

Die Hartz-IV-Debatte ist ins Rollen gekommen. Sachsens Generalsekretärin Daniela Kolbe freut das sehr. Die SPD müsse raus aus der Schockstarre und auch über weitergehende Reformen am Sozialsystem mutig diskutieren, erklärt die Bundestagsabgeordnete im Interview.
von Vera Rosigkeit · 28. März 2018
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Der Vorschlag von Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller  zum solidarischen Grundeinkommen ist in aller Munde. Das Thema Hartz IV scheint die Menschen auch 15 Jahre nach der Einführung immer noch sehr zu bewegen?

Hartz IV hat vielen Menschen gerade in der Schärfe, mit der es eingeführt worden ist, Angst gemacht. Auch diejenigen, die noch gar nicht in den Leistungsbezug gekommen waren, fürchteten nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit in den Hartz-IV-Bezug zu fallen – unabhängig davon, wie viel sie vorher gearbeitet hatten. Ein anderes Problem betrifft die Organisation. Wir haben einen leistungsfähigen Sozialstaat, darauf können wir stolz sein. Aber ich sehe vor Ort in meinen Wahlkreis Bescheide, z.B. von aufstockenden Selbstständigen, die ein Kind im Wechselmodell betreuen, die locker 30 Seiten lang sind und die kein Mensch versteht. Das erfordert eine Menge Zeit für die Kommunikation mit den Jobcentern und führt zu großer Verunsicherung. So wird der Sozialstaat bei den Menschen als unglaublich bürokratisch und strafend wahrgenommen, wo er doch unterstützen soll. 

Warum ist Hartz IV so ein wichtiges Thema für die SPD?

Zwar waren fast alle Parteien an der Einführung der Agenda 2010 beteiligt, doch maßgeblich war es die SPD. Und wir sind die Sozialstaatspartei. Wenn der Sozialstaat nicht positiv wahrgenommen wird, ist das auch nicht gut für die Sozialdemokratie. Außerdem wollen wir als Partei die Gesellschaft gestalten. Die Agenda mag ja vor 15 Jahren bei fünf Millionen Arbeitslosen plausibel gewesen sein, heute ist die Situation aber eine andere. Wir haben die Digitalisierung vor der Brust und einen zunehmenden Fachkräftebedarf in vielen Bereichen. Das System von damals ist heute nicht mehr up to date. Deshalb müssen wir diese Debatte als SPD jetzt endlich führen. Wir waren viele Jahre wie in Schockstarre und haben uns das nicht getraut. Umso mehr freue ich mich, dass Michael Müller mit dem solidarischen Grundeinkommen einen konstruktiven und umsetzbaren Vorschlag gemacht hat.

Wie könnte eine Alternative zu Hartz IV aussehen?

Wir haben in unserem SPD-Erneuerungsprozess jetzt den Raum, diese Debatte zu führen. Arbeit und Weiterbildung wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken, so wie es Müller vorschlägt, halte ich aber für den richtigen Ausgangspunkt. Und auch wenn wir derzeit in der Regierung einen Koalitionspartner haben, der keine großen Reformen anstrebt, stehen dazu auch Ansätze im Koalitionsprogramm. Es wäre also ein erster richtiger Schritt, dass die Menschen, die arbeiten wollen, auch die Möglichkeit bekommen und dafür auch etwas mehr haben als nur den ALG-II-Bezug. Diesen Schritt können wir in dieser Legislaturperiode schon gehen. Ich wünsche mir, dass wir als SPD aber auch über weitergehende Reformen am Sozialsystem mutig und offen diskutieren.

Was halten Sie vom solidarischen Grundeinkommen?

Ich teile den Ansatz. Wir sind eine Arbeitsgesellschaft und wir Sozialdemokraten wollen, dass diejenigen, die arbeiten wollen auch würdevoll arbeiten können. Gerade im gemeinnützigen Bereich gibt es dazu auch ausreichend vorhandene sinnstiftende Arbeit. In der Ausgestaltung sehe ich noch Diskussionsbedarf. Aber das war ja auch Ziel von Müllers Vorschlag: eine Debatte anstoßen.

Hartz IV wird sehr viel mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit in Verbindung gebracht?

Auf jeden Fall. Wenn Menschen schon nach zwölf Monaten in den Leistungsbezug rutschen, egal wie lang sie eingezahlt haben, wird das Gerechtigkeitsempfinden von Vielen ganz empfindlich verletzt. Deshalb müssen wir in den Diskussionen über eine Reform die Themen Anerkennung und Respekt vor Lebensleistung wieder viel stärker in den Blick nehmen.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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