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Wie der NSU-Terror das Leben in unserem Land verändert hat

Dass Rassismus das Motiv hinter den Morden des NSU war, wollten Polizei, Medien und Politik lange Zeit nicht wahr haben. Das „Projekt Dimensionen“ fragt, woher der Terror kommt. Und: Wie lässt sich rassistische Gewalt verhindern?
von Paul Starzmann · 17. Mai 2016
Gedenken an Halit Yozgat und Mehmet Kubasik
Gedenken an Halit Yozgat und Mehmet Kubasik

Es sind schwerwiegende Vorwürfe, die sich Polizei und Presse im Zusammenhang mit den NSU-Morden gefallen lassen müssen. Über zehn Jahre ermittelten die Sicherheitsbehörden „ausschließlich einseitig und mit rassistischen Methoden“, schreiben die Wissenschaftlerinnen Ayşe Güleç und Lee Hielscher für das „Projekt Dimensionen“. Die Angehörigen der Opfer wurden in den Augen der ermittelnden Beamten kurzerhand zu mutmaßlichen Tätern, Mitwissern oder Komplizen. Die Presse stimmte ein in den rassistischen Chor, vermutete „Ausländerkriminalität“ hinter den Taten, verhöhnte die Opfer sogar mit der zynischen Bezeichnung „Dönermorde“.

Postmigrantische Perspektiven

Auf über 200 Seiten widmet sich die Broschüre „Der NSU und seine Auswirkungen auf die Migrationsgesellschaft“ der Geschichte und Gegenwart rassistischer Gewalt in Deutschland. Über ein Dutzend Autoren gehen der Frage nach, was die Taten der mutmaßlichen Nazi-Mörder des NSU mit dem Leben in der Bundesrepublik gemacht haben. Das Ziel des Hefts ist, „dass (post-)migrantische Perspektiven auf den NSU-Komplex gehört und sichtbar werden“, wie Herausgeber Rolf Knieper erklärt.

Viele Autoren kritisieren, dass genau diese Perspektiven in der Gesellschaft nach wie vor kaum Anerkennung finden. Ihr Wissen werde „systematisch auf allen Ebenen unsichtbar gemacht“, erklärt die Aktivistin Karima Popal. So war etwa vielen Angehörigen der NSU-Mordopfer sofort klar, dass Rassisten hinter den Anschlägen stecken könnten. Rassismus als Motiv wurde von den ermittelnden Polizisten jedoch nicht einmal in Erwägung gezogen – es war schlicht jenseits ihrer „Erfahrungswelten“, wie Ayşe Güleç und Lee Hielscher bemerken. So käme neben der Bedrohung für Leib und Leben für die migrantische Gesellschaft die „Aberkennung ihrer Lebenssituation“ hinzu, kritisieren die Autorinnen.

„Kontinuitäten des Rassismus“

Dabei ist rassistische Gewalt in der Bundesrepublik alles andere als ein neues Phänomen. Beinahe vergessen sind jedoch die rechte Terrorwelle der Siebziger oder das Jahr 1980, als es „nahezu im Monatsrhythmus zu Sprengstoff- und Brandanschlägen quer durch Deutschland“ kam, wie sich der Rechtsextremismus-Forscher Fabian Virchow erinnert.

Die rechte Gewalt sei keineswegs eine gesellschaftliche Randerscheinung, sind sich viele Autoren sicher. Das „Fundament des NSU und seiner rassistischen Gewalt“ sei der „Alltagsrassismus der Mehrheitsgesellschaft“, schreibt Karima Popal. „Nur mit dieser Grundlage sind die Morde und ihre jahrelange Nicht-Aufklärung erklärbar.“ Durch das Versagen der Behörden, so Popal, entstehe der Eindruck, dass Polizei, Politik und Justiz „faktisch nicht allen gleichermaßen“ das Recht auf Unversehrtheit zusicherten.

Empowerment gegen die Spaltung der Gesellschaft

Um dem Rassismus in der Gesellschaft entgegenzutreten, „nimmt die politische Bildungsarbeit eine zentrale Schlüsselfunktion“ ein, findet Karima Popal. Der NSU-Komplex müsse auch nach dem Ende der juristischen Aufarbeitung in Erinnerung bleiben. Wichtig sei dabei, „migrantische Perspektiven und Stimmen sichtbar“ zu machen. Für die Jugend- und Bildungsarbeit kann die neue Broschüre des „Informations- und Dokumentationszentrum Antirassismusarbeit“ dafür eine wichtige Arbeitsgrundlage sein.

Dabei setzen die Herausgeber auf eine stärkere „Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund“. Die Autoren fordern ein Ende der gesellschaftlichen Spaltung in „wir“ und „die Fremden“. Auch eine „Klassifizierung“ in „gute“ und „schlechte“ Migranten, wie es Imran Ayata, Mitbegründer von „Kanak Attak“, beschreibt, müsse ein für allemal überwunden werden – oder die rassistische Gewalt geht einfach weiter.

Rolf Knieper und Elizaveta Khan (Hrsg.) im Auftrag des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e.V.: „Projekt Dimensionen. Der NSU und seine Auswirkungen auf die Migrationsgesellschaft. Ein Methodenreader für die Multiplikator_innen in der Jugend- und Bildungsarbeit, Düsseldorf 2015, 222 Seiten. Zu bestellen unter: www.idaev.de/publikationen/bestell-formular

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Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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