„Ein Ausstieg ist niemals abgeschlossen“
Sie waren bis 2011 in der rechten Szene aktiv. Was muss man aus Ihrer Sicht als Aussteiger tun, um nicht rückfällig zu werden?
Ich schlage ein Drei-Stufen-Modell vor. Der erste Schritt ist der Rückzug. Das bedeutet, nicht mehr auf Demos zu gehen und nichts mehr aktiv zu machen. Das wird allerdings häufig von Nazis strategisch genutzt, wenn ein Gerichtsverfahren ansteht. Dann gehen Leute einfach zwei, drei Monate lang nicht mehr auf Veranstaltungen und behaupten, sie seien ausgestiegen. Wirkliche Aussteiger müssen im Gegensatz dazu alle Brücken abtrennen.
Was wäre der zweite Schritt?
Das ist die Distanzierung. Nicht mehr rassistisch zu denken und zu handeln, nicht mehr die typischen Vorurteile zu verbreiten und die Welt nicht mehr durch diese fremdenfeindliche Brille zu sehen. Das ist aber auch zu kurz gedacht, weil viele Nazis längst die Sprache der liberalen Demokratie sprechen. Jemand wie der österreichische Identitären-Chef Martin Sellner kann ohne Probleme einen Aussteiger spielen. Das ist ein großes Problem, weil man den Leuten einerseits nicht in den Kopf schauen kann, man andererseits aber auch Indikatoren braucht, an denen man festmachen kann, ob sich jemand distanziert hat.
Was macht die Distanzierung außerdem aus?
Das ist die körperliche und emotionale Komponente. Leute, die sich radikalisieren, militarisieren ihren Körper meist durch Kraft- und Kampfsport. Zudem darf man nur noch bestimmte Personen als Sexualobjekte wahrnehmen, nämlich weiße Frauen. Das sind auch Sachen, die man sich abgewöhnen muss. Viele Aussteiger haben verstanden, dass Rassismus falsch ist. Trotzdem haben sie zum Beispiel ein stechendes Gefühl im Magen, wenn sie auf der Straße oder in einem Porno Dinge sehen, die sie bisher als „Rassenschande“ verstanden haben. Es dauert sehr lange, das abzutrainieren.
Was ist dann ein „richtiger“ Ausstieg?
Der dritte Schritt bedeutet, dass sich die Leute nicht nur zurückgezogen und deradikalisiert haben, sondern verstehen, dass ihre Handlungen in der Szene weiterwirken, nachdem sie ausgestiegen sind. Ich bin zum Beispiel mitverantwortlich für das, was die Identitären jetzt machen. Daraus folgt eine Verantwortung, gegen diese Leute vorzugehen und aufzuklären. Ein Ausstieg ist meiner Ansicht nach auch niemals abgeschlossen, sondern als anhaltender Prozess zu verstehen.
Als Ihr Ausstieg öffentlich wurde, kamen negative Reaktionen von früheren Kameraden. Wie sind Sie damit umgegangen?
Die Morddrohungen auf Facebook, die kamen, habe ich nicht besonders ernst genommen. Mir hat eher Angst gemacht, dass diejenigen Leute, die in der Lage gewesen wären, mir etwas anzutun, sich gar nicht dazu geäußert haben.
Haben Sie auch Menschen aus der Szene vermisst?
Natürlich habe ich am Anfang auch Freunde vermisst, aber ich war schon mit Leuten aus der Uni und der Antifa-Szene befreundet. Das war für mich kein Problem. Umgekehrt habe ich mich von vielen in der rechten Szene vorher entfremdet, weil ich Marx und Adorno gelesen habe. Heute vermisse ich die Leute nicht mehr, aber ich habe nichts dagegen, später mal eine Art Klassentreffen zu machen, wenn sie glaubhaft ausgestiegen sind.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo