Geschichte

Reichsgründung vor 150 Jahren: Beginn des Aufstiegs der Sozialdemokratie

Mit der Kaiser-Proklamation in Versailles wurde am 18. Januar 1871 das Deutsche Reich gegründet. Die Sozialdemokrat*innen galten schnell als „Reichsfeinde“. Ihrem Aufstieg nutzte das eher.
von Peter Brandt · 17. Januar 2021
Gründung des Deutschen Reichs am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Schloss Versailles: Viele Sozialdemokrat*innen saßen zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis.
Gründung des Deutschen Reichs am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Schloss Versailles: Viele Sozialdemokrat*innen saßen zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis.

Am 18. Januar 1871, vor 150 Jahren, wurde während einer Versammlung der deutschen Landesfürsten mit Militärs und Höflingen als Publikum im Spiegelsaal des französischen Königsschlosses Versailles der preußische König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser proklamiert und damit nach offizieller Lesart das Deutsche Reich gegründet; es war eine gegenüber dem westlichen Europa nachholende Nationalstaatsgründung, unmittelbar bewirkt durch die sogenannten Einigungskriege des preußischen Ministerpräsidenten Bismarck, aber vorbereitet durch den Deutschen Zollverein seit den 1830er Jahren, die allgemeine wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung und die ganz überwiegend liberale und demokratisch orientierte Nationalbewegung.

Bismarck hatte erkannt, dass er die hegemoniale Stellung Preußens mit seiner aristokratisch-bürokratischen, stark großagrarisch geprägten Führungsschicht nur würde bewahren können, wenn er der bürgerlich-liberalen Opposition die drängendsten Anlässe im Hinblick auf ihre nationalen Ziele, verbunden auch mit materiellen Interessen, entzog.

Das Ziel: eine demokratische Einigung von unten

Der Ausschluss Österreichs aus dem deutschen Einigungsprozess und die Schaffung eines Norddeutschen Bundes der Länder nördlich des Mains durch den zweiten – und eigentlich wichtigsten – der Einigungskriege 1866/67 installierte bereits eine Vorform des späteren Kaiserreichs, insbesondere hinsichtlich der Verfassungsordnung: konstitutionell-monarchisch mit einem Übergewicht der Exekutive, doch einem im europäischen Vergleich fortschrittlichen Wahlrecht für den Reichstag (allgemein und gleich für Männer ab 25), während für die Landtage in Preußen und den anderen Einzelstaaten beschränkte oder ungleiche Wahlrechte weiterbestanden. Die vertragliche Gründung des Deutschen Reiches zum Jahresbeginn 1871 durch Beitritt der süddeutschen Staaten – die Kaiserproklamation lieferte den symbolischen Akt nach – war letztlich nur ein Weiter- und Ausbau des Norddeutschen Bundes von 1867.

Die junge sozialdemokratische Arbeiterbewegung war nicht gegen die Einigung des staatlich zersplitterten Deutschland als solche – im Gegenteil. Man strebte eine demokratische Einigung von unten an, im Sinne der Bestrebungen der 1848er-Demokraten unter Einschluss Deutsch-Österreichs. Das gilt langfristig auch für die Lassalleaner des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) mit Schwerpunkten in Preußen, die, anders als die 1869 gegründete, eher antipreußische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) mit Schwerpunkt in Sachsen, die von Bismarck betriebene „kleindeutsche“ Einigung unter preußischer Führung von Anfang an als großen Schritt nach vorn einschätzte.

Nach und nach übernahm die seit 1875 (seit 1890 unter heutigem Namen) fusionierte Sozialdemokratie diese Haltung insofern, als sie den bejahten territorialen Zusammenschluss Deutschlands von der abzulehnenden, zu bekämpfenden inneren Ordnung des Reiches unterschied. So ist die Äußerung zu verstehen, die Wilhelm Liebknecht 1888, noch während des Sozialistengesetzes, im Reichstag machte: Nicht mehr von Bismarcks Gnaden allein existiere das Deutsche Reich. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht sei es, das das Reich mit „Millionen von Wurzelfasern“ festgewurzelt habe im deutschen Volk.

Die SPD und die Kriegsfrage

Als die „Reichsgründung“ am 18. Januar 1871 in Versailles als Bündnis der Fürsten inszeniert wurde, saßen etliche der maßgeblichen demokratischen Politiker im Gefängnis. Der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges im Juli 1870 durch wechselseitige Provokationen – die süddeutschen Staaten waren dem Norddeutschen Bund bereits über Schutz- und Trutzverträge militärisch angeschlossen – hatte die Sozialdemokratie stark zerstritten gesehen: Die Lassalleaner schätzten den Krieg ursprünglich als deutschen Verteidigungskrieg ein und traten für die Bewilligung der Kriegskredite ein, ebenso ein großer Teil der SDAP-Anhänger samt Leitung sowie Karl Marx und Friedrich Engels im britischen Exil, während August Bebel und Wilhelm Liebknecht, zwei der drei Parlamentsabgeordneten des Norddeutschen Bundes, sich der Stimme enthielten, weil sie einen rein dynastischen Krieg zwischen zwei reaktionären Regimes identifizierten.

Diese Differenzen verschwanden umgehend, als die deutschen Armeen den Krieg im ersten Anlauf gewannen, in Paris Kaiser Napoleon III. gestürzt und die Republik proklamiert wurde. Mit der in der bürgerlichen Publizistik und in Militärkreisen immer unverhohlener erhobenen Forderungen nach der Annexion Elsass-Lothringens wurde der weitergeführte Feldzug für beide sozialdemokratische Richtungen zum Eroberungskrieg, für den keine Mittel bewilligt werden durften.

Die Popularität der Sozialdemokratie wächst

Bebel und Liebknecht mussten sich 1872 wegen Hochverrats vor Gericht verantworten und wurden in einem formaljuristisch anfechtbaren Prozess zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Bei Bebel kam dann noch eine neunmonatige Haft wegen Majestätsbeleidigung hinzu. Diese und andere Verfolgungsmaßnahmen schadeten der jungen Bewegung nicht, sondern verschafften ihr zusätzliche Aufmerksamkeit und weitere Popularität, umso mehr als sie fast allein als entschiedene Widersacherin der herrschenden Politik hervortrat.

Auch aus dem von 1878 bis 1890 vom Reichstag verlängerten Ausnahmegesetz, das die inzwischen vereinigte Partei in die Illegalität bzw. Halblegalität zwang, ging die Sozialdemokratie gestärkt hervor. Seit 1890 relativ wählerstärkste Partei, konnte sie ihren Stimmenanteil bei modifiziert andauernder Diskriminierung in den kommenden zweieinhalb Jahrzehnten beinahe kontinuierlich auf über ein Drittel steigern.

Wenn die Herrschenden die Sozialdemokraten von vornherein zu den „Reichsfeinden“ rechneten (anfangs ferner die Vertreter der nationalen Minderheiten und den papsttreuen, politischen Katholizismus), dann lag das an ihrem demokratischen Konzept der deutschen Nation ebenso wie an ihrem proletarischen Internationalismus. Sie bekannte sich zur Internationalen Arbeiter-Assoziation, der Ersten Internationale, und ließ keinen Zweifel daran, dass ihre Solidarität den Klassenbrüdern anderer Länder galt, die im Kampf standen.

Die SPD markiert den Unterschied zu den Machthabern

Am 25. Mai 1871 bekundete August Bebel im Reichstag diese Haltung, indem er sich uneingeschränkt auf die Seite der blutig unterdrückten Pariser Kommune stelle, eine radikale Demokratie, getragen von verschiedenen sozialistischen und linksrepublikanischen Gruppierungen. Angesichts der an den besiegten Kommunarden verübten Massaker erklärte Bebel den Aufstand zu einem „kleinen Vorpostengefecht“ der internationalen Arbeiterklasse, eine Aussage, die Bismarck nach dessen späterer Mitteilung von der Gefährlichkeit der Sozialdemokratie überzeugte, trotz ihrer damals noch geringen parlamentarischen bzw. elektoralen Präsenz.

Indem die SPD statt des inoffiziellen Nationalfeiertags am 2. September, den Jahrestag der entscheidenden Schlacht von Sedan im Jahr 1870, in der Folgezeit demonstrativ den 18. März beging, das zweifache Datum der Barrikadenkämpfe 1848 in Berlin während der deutschen Revolution für „Einheit und Freiheit“ sowie der Proklamation der Pariser Kommune, markierte sie in aller denkbarer Deutlichkeit den Unterschied zu den Machthabern des Kaiserreiches wie zu den staatstragenden Parteien.

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Autor*in
Peter Brandt

ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen und Mitglied des SPD-Geschichtsforums. Er ist der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt.

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