Vergangene Woche waren die Israelis erneut zur Wahl aufgerufen und erfüllten damit ihre demokratische Pflicht zum vierten Mal in zwei Jahren. Die Wahlbeteiligung sank nur geringfügig von 71,4 auf 67,3 Prozent, so dass trotz des vielfachen Urnengangs von Wahlmüdigkeit keine Rede sein kann. Die Aufmerksamkeit verlagert sich nun von den 6,5 Millionen Wahlberechtigten auf die 120 neu gewählten Mitglieder der Knesset, die die Zusammensetzung der nächsten Regierung und die Wahl des Ministerpräsidenten bestimmen werden.

Die Wahlen waren notwendig geworden, nachdem die im Mai 2020 gebildete Regierung des nationalen Notstands, bestehend aus Netanjahus Likud, den religiösen Parteien und Teilen des Wahlbündnisses Blau-Weiß, im Dezember daran scheiterte, einen Doppelhaushalt für die Jahre 2020 und 2021 zu verabschieden und das Parlament daraufhin aufgelöst wurde. Dies war freilich nur der vorgeschobene Grund. Netanjahu wirkte zielstrebig auf das Scheitern dieser Koalition hin, um die für November vorgesehene Rotation im Amt des Premierministers, und somit seinen eigenen Machtverlust, zu verhindern.

Netanjahu fehlt eine klare Regierungsmehrheit

Laut dem vorläufigen Endergebnis könnte der amtierende Ministerpräsident trotz der Tatsache, dass sein Likud mit großem Abstand stärkste Partei wurde, allerdings Schwierigkeiten haben, ausreichend Abgeordnete hinter sich zu versammeln, um an der Macht zu bleiben. Zurzeit sind Netanjahus rechtem Block 52 Sitze sicher, neun Sitze zu wenig für eine Regierungsmehrheit.

Wie bereits vor der Wahl angedeutet, könnte die arabische Partei Raam, die als kleinste Partei nur knapp mit vier Sitzen ins Parlament eingezogen ist, zur Königsmacherin werden. Dies käme einem Tabubruch gleich, galt doch bisher das ungeschriebene Gesetz, dass sich keine israelische Regierung auf die Stimmen der nichtzionistischen Parteien der arabischen Minderheit stützen könne.

Dass nun gerade Netanjahu, der Protagonist des wohl nachhaltigsten Rechtsrucks der israelischen Geschichte, der nicht nur die Zweitstaatenlösung bekämpft, sondern über Jahre auch die arabischen Israelis als fünfte Kolonne des Feindes beschimpfte, dieses Tabu bricht, zeugt einerseits von einer gewissen Normalisierung im jüdisch-arabischen Binnenverhältnis. Noch mehr jedoch zeugt es von der atemberaubenden, auch ideologischen Wendigkeit dieses Ausnahmepolitikers, der nicht grundlos zum am längsten amtierenden Premier Israels avancierte.

Raam-Partei hült sich in Schweigen

Doch vorerst hat die islamische Partei noch nicht erklärt, ob sie den Premier tatsächlich unterstützt. Auch sie steht unter enormem Druck. Aus Sicht ihrer Wähler*innen könnte der Sprung an die Fleischtöpfe der Macht jedoch attraktiver sein als ein waghalsiger ideologischer Balanceakt. Es käme auch einer großen Integration der in vielerlei Hinsicht marginalisierten Minderheit gleich und würde bedeuten, dass die Interessen der arabischen und palästinensischen Israelis in Zukunft weitaus mehr Beachtung erführen.

Die erklärten Netanjahu-Gegner haben derweil 57 Sitze gewonnen, und obwohl auch sie mit der Unterstützung der islamischen Partei die notwendige Mehrheit erreichen könnten, ist es fraglich ob eine solche Zusammenarbeit möglich ist. Die ideologische Spannbreite einer solchen Koalition wäre enorm. Tatsächlich gäbe es nur einen einzigen gemeinsamen Nenner: die Ablösung Netanjahus. 

Sollte es bis Ende Mai keinem der Blöcke gelingen, eine Mehrheit zu organisieren, könnte das Land vor seiner fünften Wahl seit 2019 stehen. Das proportionale Listenwahlsystem mit seiner niedrigen Sperrklausel von nur 3,25 Prozent macht es einer einzelnen Partei fast unmöglich, eine Wahl direkt zu gewinnen. Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission erhielt die rechte Likud-Partei des Ministerpräsidenten 24,2 Prozent der Stimmen. Die zentristische Yesh Atid-Partei des wichtigsten Oppositionsführers Yair Lapid belegte mit lediglich 13,9 Prozent den zweiten Platz. Entsprechend erhält der Likud 30 Sitze in der Knesset mit 120 Sitzen und Yesh Atid 17. Neben den beiden „großen“ Parteien ziehen noch elf weitere Kräfte in die Knesset ein, die alle zwischen 3,8 und 7,2 Prozent der Stimmen errungen haben.

Zersplitterung und Rechtsruck der Knesset

Damit hat die Fragmentierung der bereits traditionell zersplitterten politischen Landschaft einen neuen Höhepunkt erreicht. Sollte Yair Lapid als Listenführer der zweitgrößten Partei eine Mehrheit hinter sich versammeln, könnte jemand Premier werden, der nicht einmal von einem Siebentel der Wählerinnen und Wähler gewählt worden ist. Die wiederholte Pattsituation zeigt erneut, wie tief gespalten die israelische Politik ist. So gelingt es kaum noch einer Partei, im Sinne einer Volkspartei größere Bevölkerungs- und Wählergruppen zu integrieren.

Diese Zersplitterung kann jedoch einen generellen Rechtsruck nicht kaschieren. Die historisch lange dominanten linkszionistischen Kräfte erringen nur noch zehn Prozent – wobei das im Hinblick auf die Umfragen vor noch einigen Wochen sogar als respektables Ergebnis gilt. Mehr noch als ideologisch gliedert sich die Parteienlandschaft anhand der Frage pro- und anti-Netanjahu auf. Der langjährige Premier ist die alles dominierende Figur.

Nicht nur Netanjahu sondern auch seine Rivalen buhlen um die Unterstützung sowohl der rechtsnationalistischen Yamina als auch der islamischen Raam, die benötigt wird, um eine Mehrheit zu erreichen. Der Raam-Parteivorsitzende Mansour Abbas erklärte, er sei offen für die Zusammenarbeit mit Netanjahu, wenn dadurch die Bedürfnisse der arabischen Bürger*innen Israels gerechter bedient würden, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Auch nach der Wahl verlautbarte Abbas, dass er bereit sei, mit Netanjahu, aber auch der anderen Seite zusammenzuarbeiten.

Anti-Netanjahu-Koalition wäre auf Stimmen rechter Parteien angewiesen

Bezalel Smotrich, ein Verbündeter Netanjahus und Vorsitzender der Partei des religiösen Zionismus, einem vor der Wahl neugegründeten Bündnis allerlei rechter bis sehr rechter Kräfte, entgegnete umgehend, dass der amtierende Ministerpräsident sich nur auf seine Unterstützung verlassen könne, wenn er eine Zusammenarbeit mit Raam ausschlösse. In seiner Fraktion sind Vertreter*innen, die einer Groß-Israel-Ideologie anhängen, die Vertreibung der Palästinenser in der Westbank nach Jordanien fordern und LGBTI-Personen diskriminieren wollen.

Die ebenfalls rechte Yamina wird von Netanjahus ehemaligem Schützling und vormaligem Verteidigungsminister Naftali Bennett geführt, mit dem ihn eine schwierige Beziehung verbindet. Wie Abbas hat Bennett bisher nicht angekündigt, welchen Kandidaten er Staatspräsident Reuven Rivlin für die Regierungsbildung empfehlen wird. In Israel kommt dem Staatspräsidenten die Rolle zu, den aussichtsreichsten Kandidaten offiziell zu beauftragen, eine Koalition zu formieren.

Eine zentristische oder Mitte-Links-Regierung könnte eher versuchen, festgefahrene Verhandlungen mit den Palästinenser*innen wiederzubeleben und territoriale Zugeständnisse als Gegenleistung für den Frieden in Betracht zu ziehen. Allerdings wäre auch eine Anti-Netanjahu-Koalition letztlich auf Stimmen rechter Parteien angewiesen, und würde einem möglichen Premier Yair Lapid nur wenig Spielraum gewähren.

Gerichtsprozesse beeinflussen Verhandlungen

Die politische Blockade wird durch die beispiellose Situation eines Ministerpräsidenten verschärft, der darauf besteht, trotz Anklage wegen Korruption und Amtsmissbrauchs im Amt zu bleiben. Der Prozess soll in zwei Wochen wieder aufgenommen werden. Netanjahu bestreitet jegliches Fehlverhalten. Unter seinen Verbündeten ist derweil die Rede von radikalen Maßnahmen, einschließlich rückwirkender Immunitätsregelungen und erheblicher Einschränkungen der Kompetenzen des Obersten Gerichtshofs.

Die letzten vier Wahlen haben vor allem eines gezeigt: Die meisten Vorhersagen über mögliche Regierungskoalitionen wurden ob der Komplexität der israelischen Politik und der Erfindungsgabe einzelner Akteure Lügen gestraft. Gerade Netanjahu sticht hier heraus, so dass es keineswegs unwahrscheinlich erscheint, dass er sich auch weiter an der Macht hält.

Für Israels Bevölkerung wäre es wünschenswert, wenn es nicht unmittelbar zu einem fünften Wahlgang käme. Bei einer Armutsrate von über 20 Prozent und einer derzeit noch pandemie-verursachten Arbeitslosigkeit von 16,7 Prozent wäre das ein unverantwortlicher Schritt. Es steht zu hoffen, dass sich ausreichend entschlossene Politiker zusammenfinden werden, denen das Wohl des Landes wichtiger ist, als ihre eigenen Ambitionen.

Rein rechnerisch sollte es trotz dieser Pattsituation möglich sein, eine Übergangsregierung zu bilden. Es geht zuvorderst darum, nach drei Jahren provisorischer Haushaltsführung einen Staatshaushalt aufzustellen, der es ermöglicht, die Wirtschaft nach dem Corona-Lockdown wieder zu beleben, die Arbeitslosen wieder in Arbeit zu bringen und das Gesundheits- und Bildungswesen zu stärken.

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal.