Überfall auf die Ukraine

Zeitenwende: Wie sich Deutschlands Außenpolitik verändern muss

Christos Katsioulis01. März 2022
Deutsche, ukrainische und europäische Fahne vor dem Reichstagsgebäude: Wie wirkt sich die Zeitenwende des russischen Kriegs auf die deutsche Außenpolitik aus?
Deutsche, ukrainische und europäische Fahne vor dem Reichstagsgebäude: Wie wirkt sich die Zeitenwende des russischen Kriegs auf die deutsche Außenpolitik aus?
Der Überfall Russlands auf die Ukraine stellt viele lang gehegte Überzeugungen in Frage, auch in Deutschland. Nun gilt es, klug umzusteuern.

Zeitenwende, Zäsur, Paradigmenwechsel. Es fehlt nicht an Beschreibungen dessen, was seit dem Ausbruch des Krieges in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik stattfindet. Das harte Sanktionsregime gegen Russland und der Beginn von Waffenlieferungen an die Ukraine waren erste Vorboten des Wandels. Die Sondersitzung des Bundestages mit der historischen Rede von Kanzler Olaf Scholz brachte dann die Bestätigung auch in harten Zahlen. Deutschland wird die Verteidigungsausgaben auf über zwei Prozent anheben, die Bundeswehr soll ein grundgesetzlich abgesichertes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro erhalten, um Investitionen und Anschaffungen durchführen zu können, dazu fallen weitere Tabus. Die Bundeswehr soll in einem Maße ertüchtigt werden, wie es seit dem Kalten Krieg nicht mehr der Fall war: bewaffnete Kampfdrohnen werden angeschafft, die nukleare Teilhabe wird mit neuen Flugzeugen weitergeführt, gemeinsame europäische Rüstungsvorhaben sollen beschleunigt werden.

Tiefe Ernüchterung über den Kreml

Aber die Bundestagssitzung markiert nicht nur einen Neuanfang im Verteidigungshaushalt, sondern eine Zeitenwende in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Der Dreiklang zwischen Westbindung, Ostpolitik und europäischer Integration ist in Frage gestellt. Der Grundidee, dass Sicherheit in Europa nur mit Russland möglich ist, hat der Bundeskanzler vorerst eine Absage erteilt.

In fast allen Reden der Koalitionäre, aber auch in Teilen der Opposition klang eine Desillusionierung mit Russland durch, eine schwere Enttäuschung über die Invasion und Wut über den Bruch des Völkerrechts. Nach den diplomatischen Bemühungen um eine Vermeidung des Krieges herrschte eine tiefe Ernüchterung über die Handlungen des Kremls und das kaltblütige Kalkül hinter dem Angriff auf die Ukraine.

Das Verhältnis zu Russland, das für Deutschland stets von besonderer Bedeutung war, hat sich daher grundlegend verändert. Konzepte wie „Wandel durch Annäherung“ oder „Wandel durch Handel“ gehören der Vergangenheit an. Stattdessen zieht eine konfrontative Logik gegenüber dem Regime Putin ein. Begrifflichkeiten des Kalten Krieges wie Abschreckung und Eindämmung werden an Bedeutung gewinnen. Dialog, so die ernüchterte Feststellung des Kanzlers, braucht auch Gesprächsbereitschaft auf der anderen Seite.

Weg von Brandt, hin zu Schmidt

Ausgehend von diesem Moment stellt sich die Frage, wie tiefgreifend die Veränderungen deutscher Außenpolitik sind. Die Außenministerin zog aus den Ereignissen der vergangenen Tage einen weitreichenden Schluss: „Vielleicht ist es so, dass Deutschland am heutigen Tag eine Form besonderer und alleinstehender Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik hinter sich lässt. Die Regeln, die wir uns dafür gegeben haben, dürfen uns nicht aus unserer Verantwortung nehmen. Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein.“

Die Lieferung von Waffen in die Ukraine ist ein erster Schritt der Abkehr von der deutschen Kultur der Zurückhaltung. Die Ankündigung des erhöhten Verteidigungshaushaltes ist demgegenüber kein eindeutiges Signal in Richtung einer stärker militarisierten deutschen Außenpolitik – der Schwerpunkt liegt auf Verteidigung. Damit verschiebt sich für viele Beobachter*innen der historische Referenzpunkt sozialdemokratischer Außenpolitik: weg von der Ostpolitik Willy Brandts, hin zur entschlossenen Sicherheitspolitik von Helmut Schmidt zu Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses – wobei die nun rapide getroffenen Entscheidungen weitreichender sein dürften als vor 40 Jahren.

Aktivismen gegenüber Russland vermeiden

Aber der Paradigmenwechsel Deutschlands lässt einige Fragen offen, die die Debatte in den kommenden Wochen und Monaten beschäftigen müssen, auch wenn der Konfliktausgang in der Ukraine weiterhin unabsehbar ist. Dabei steht neben der Beschleunigung der europäischen Akteurswerdung kurz- bis mittelfristig der Umgang mit Russland im Mittelpunkt.

Drei Dimensionen sind in Bezug auf Russland von Bedeutung. Erstens die Vermeidung einer weiteren Eskalation, zweitens die Exit-Strategie aus dem aktuellen Konflikt und drittens der Platz Russlands in Europa. Die momentane Politik, die mit Sanktionen, Waffenlieferungen und einer starken Personalisierung auf Präsident Putin beinahe schon an den Umgang mit Nordkorea erinnert, birgt die Gefahr einer weiteren Eskalation, der Ausweitung des Konflikts – und dies mit einer Nuklearmacht.

Daher müssen die militärischen und diplomatischen back channels vor allem zwischen den USA und Russland aufrechterhalten werden und es muss dringend der Eindruck vermieden werden, dass NATO-Staaten sich aktiv in den Konflikt einmischen. Ankündigungen, dass europäische Militärflugzeuge zur Unterstützung der Ukraine eingesetzt werden, oder ähnliche Aktivismen sollten vermieden werden. Zudem sollte innerhalb des Sanktionsregimes penibel darauf geachtet werden, die Differenzierung zwischen Elite und russischer Gesellschaft aufrecht zu erhalten, um keinen Wagenburgeffekt in Russland zu erzeugen.

Eine Exit-Strategie aus dem heißen Konflikt

Zweitens und eng damit verbunden braucht es eine Exit-Strategie aus dem heißen Konflikt, die es auch für Putin möglich macht, gesichtswahrend das Feld zu verlassen. Hier spielen Deutschland und die EU eine zentrale Rolle, indem Sanktionen schrittweise zurückgenommen werden, sobald Entgegenkommen der anderen Seite zu erkennen ist. Auch wenn es sichtlich schwerfällt, diesem Regime Zugeständnisse zu machen, sollte der Fokus dennoch auf einer möglichst schnellen Beendigung der Kampfhandlungen und der Eskalation liegen. Andeutungen zur Beförderung eines Regimewechsels in Moskau sind dabei grundsätzlich kontraproduktiv, weil auch wegen der Nuklearwaffen vermieden werden sollte, dass das Regime ums eigene Überleben kämpft.

Drittens bedarf es heute schon konzeptioneller Überlegungen darüber, welchen Platz Russland und die Ukraine künftig in Europa haben werden. Denn bei allen Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine darf nicht vergessen werden, dass ein NATO-Beitritt bis vor kurzen „nicht auf der Tagesordnung“ stand und auch der EU-Beitritt ein eher hypothetisches Konstrukt ist, das keine Zustimmung finden wird. Um zu vermeiden, dass das Land zu einer dauerhaften Insel der Instabilität am Rande Europas wird, das zu immer wieder aufflammenden Konflikten mit Russland führt, müssen Konzepte wie Neutralität, Demilitarisierung und Sicherheitsgarantien ernsthaft diskutiert werden. Dabei muss das europäische Augenmerk dafür geschärft werden, den richtigen Moment zu erkennen, in dem Sicherheit in Europa wieder mitRussland denkbar wird, um in eine konstruktive Gestaltung einer europäischen Friedensordnung einzusteigen.

Deutschlands besondere Verantwortung

Alle drei dieser Aspekte – und es handelt sich dabei lediglich um eine Auswahl – machen deutlich, dass der Paradigmenwechsel deutscher Außenpolitik nicht mit dem Umlegen eines Schalters vergleichbar ist. Stattdessen geht es darum, klug die einzelnen Säulen deutscher Außenpolitik miteinander in Bezug zu bringen. Dazu gehören erstens die Bündnisfähigkeit in der NATO sowie vor allem die Gestaltung der europäischen Integration mit dem Ziel, die EU zu einem souveränen Akteur auf der Weltbühne zu machen. Denn bei aller Euphorie über die Einigkeit heute darf nicht vergessen werden, dass ein Transatlantiker im Weißen Haus in Zukunft wohl eher die Ausnahme als die Regel sein wird.

Zu den Säulen deutscher Außenpolitik wird zweitens weiterhin gehören, die besondere Verantwortung Deutschlands für Völkerrecht und Menschenrechte sorgsam abzuwägen und entsprechend zu handeln. Denn dies ist und bleibt ein historisches Alleinstellungsmerkmal des Landes, das sich nicht mit einer Bundestagsrede abstreifen lässt. Dies ist vereinbar mit einer Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr, bei der Bereitschaft zu Militärinterventionen sieht es aber deutlich anders aus.

Die dritte Säule deutscher Außenpolitik ist und bleibt die Verantwortung für den Osten Europas und den Versuch, hier dauerhaft Stabilität und Frieden zu sichern. Dies stand bislang unter der Überschrift der „Ostpolitik“ und bedarf unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges einer Neudefinition. Diese kann und darf aber nicht die geopolitische Tatsache übersehen, dass Russland weiterhin ein zentraler Nachbar der EU im Osten ist und wir daher Antworten auf einige Fragen finden müssen: Was bedeutet Abschreckung heute und welche Rolle spielen dabei Deutschland und seine Streitkräfte?

Die Antwort auf diese Frage wird seit dieser Woche nicht mehr unter dem Vorzeichen des Finanzierungsvorbehalts geführt, was ein Schritt in die richtige Richtung ist. Wie können wir Russlands Streben nach Einfluss eindämmen und dennoch Eskalationen vermeiden? Was sind unsere Vehikel des Dialogs und welches Ziel verfolgen wir damit auch vor dem Hintergrund transnationaler oder sogar planetarer Herausforderungen? Nur wenn wir darauf eine tragfähige Antwort finden, die über die aktuellen Ankündigungen hinausgeht, können wir dazu beitragen, dass die Zäsur der letzten Wochen unsere Zukunftsaussichten nicht dauerhaft beeinträchtigt.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

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Kommentare

Weg von Brandt?

das darf man so ohne weiteres hier sagen? Ich bin wirklich entsetzt- wie sorglos hier militarisiert wird, da kann ich nur hoffen, dass die außenpolitische Initiative der Frauen in der SPD ähnlich wie die Bewegung der Soldatenmütter in Russland ein ausreichend starkes Gegengewicht bilden kann.
Gleichzeitig sehe ich es sehr kritisch, dass der Krieg in der Ukraine eine solche Massenbewegung auszulösen vermag, während Kriege anderenorts ja wohl doch eher uninteressiert zur Kenntnis genommen werden, wenn denn überhaupt über sie berichtet wird. Liegt es an der Hautfarbe der UkrainerInnen? Ich vermute, es ist so, mag es dennoch kaum glauben. Aber diese Differenzierung von Kriegsopfern ist schon eklatant.

„so ohne weiteres“

Ich lese den Artikel etwas anders.

Für mich hat Christos Katsioulis bis zum Kapitel „Aktivismen“ lediglich referiert, wie er und andere Beobachter:Innen die Bundestagsrede des Kanzlers und Frau Baerbocks verstanden haben. Seine Meinung zum neuen Bundeswehretat finde ich (indirekt) erst angedeutet mit „einer Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr, bei der Bereitschaft zu Militärinterventionen sieht es aber deutlich anders aus“. Die Frage, „was bedeutet Abschreckung heute und welche Rolle spielen dabei Deutschland und seine Streitkräfte?“, deutet darauf hin, dass er die Bundeswehr entsprechend der Bedrohungslage ausstatten will.

Vielleicht lesen wir beide den Artikel noch einmal?

ich stimme zu, der Artikel lässt Raum

für Diskussionen. Ich verstehe ihn, und das ganze darum herum, als weitere Rechtfertigungsgrundlage für den Start einer Rüstungsspirale nach oben- doch noch bei Rheinmetall einsteigen?. Diesen Weg kann man abkürzen, wenn man denn meint, ihn gehen zu müssen. Kündigung Atomwaffensperrvertrag. Wir haben die Bombe- ihr könnt uns mal..-oder- ihr könnt uns gar nichts , sonst zünden wir sie.

Mal zusammengefasst dargestellt. Dieses klein Klein mit Nachsichtgeräten, schusssicheren Westen schießenden Gewehren- alle Humbuk für den, der abschrecken will oder mein abschrecken zu müssen.
Ich bin entsetzt, wie schnell sich die Konsensgemeinschaft hinter der kämpfenden Fraktion wiederfindet. Bis heute bin ich überzeugt davon, dass die Sache in der Ukraine hätte vermieden werden können, wenn man mit etwas Geduld gewartet hätte, bis auch in Russland die letzten noch in der UdSSR groß gewordenen abgetreten sind. Die nachwachsende Generation ist so sehr verwestlicht, dass sie nicht mehr lange zurückgehalten werden kann - in Weißrussland hätten sie es fast geschafft, warten wir noch ein paar Jahre, dann geht das durch- und dann bedarf es keiner NATO- die schon 1990 hätte aufgelöst werden müssen.

Differenzierung

Es ist auffällig wie beim Kriegsopferstatus zwischen "plonten und plauäugigen" Ukrainern und den dunkelhäutigeren und dunkeläugigeren MENSCHEN ein Unterschied gemacht wird. Wo ist die Antidiskriminierungspolitik jetzt ? Besonders bei den Grünlichen und ihren SPD/Linke Mitläufern ?

Das ist es!

"... bedarf es heute schon konzeptioneller Überlegungen darüber, welchen Platz Russland und die Ukraine künftig in Europa haben werden. ..."

Sie sollten außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Scholz, Außenministerin Baerbock und der EU sein!!!!

Uns, dem Westen werfe ich vor - vor allem mit Blick auf das unsägliche Elend, das das Putin-Verbrechen über die Ukraine gebracht hat -, Ihre Analyse nicht schon vor längerer Zeit gemacht zu haben.

Bedenkenswert

Ein Lob dem Author, der es wagt in diesen Zeiten des Patriotismus (Volker Pispers: das ist eine Kombination von Patria - Vaterland - und Idiotismus) über eine eiropäische Friedensordnung zum Wohle der Vielen nachzudenken. Das hätten verantwortungsvolle Sozialdemokraten schon früher auf die Agenda setzen sollen - aber: es ist nie zu spät.

ja, den Gedanken hätte

man schon 1990 nachgehen sollen. Ohne USA, ohne NATO wäre vieles einfacher gewesen

Demokratie und die Bundeswehr wetterfest machen

Ich finde es gut und notwendig, dass unser Bundeskanzler Olaf Scholz die Bundeswehr Wetterfest macht. Dieses ist nicht das Ergebnis des Wollen, sondern das Ergebnis des russischen Überfall auf die Ukraine und die nationalistischen, kriegslüsternden Gebärden des Mannes im Kreml oder wo er sich gerade aufhält. Putin hat in einer langen Rede zur Begründung des Ukraine Krieg, ein Russland als eine Nation aus einer Zeit vor dem Bolschewismus begründet, das wiederherzustellen sei. Er hat damit sämtliche Grenzen in Europa in frage gestellt. Das dieses keine Spassveranstaltung bzw. Spassrede war zeigt Putins Brutalität in der Ukraine.
Man sollte schon Sicherheitsmäßig im Verbund mit der NATO und der EU gerüstet sein, wenn oder bevor so ein bizarrer, amerikanischer Präsident es noch mal auf die politische Bühne schafft.