Kommentar

Verteidigung: Wie Olaf Scholz die Erwartungen der USA übertrifft

Rachel Rizzo14. März 2022
Vertrauen gestärkt: Bundeskanzler Olaf Scholz (l.) am 7. Februar 2022 bei US-Präsident Joe Biden. Zu diesem Zeitpunkt gab es in den USA noch Zweifel an der deutschen Haltung, die mit Scholz` Wende nach Putins Krieg gegen die Ukraine verschwunden sind.
Vertrauen gestärkt: Bundeskanzler Olaf Scholz (l.) am 7. Februar 2022 bei US-Präsident Joe Biden. Zu diesem Zeitpunkt gab es in den USA noch Zweifel an der deutschen Haltung, die mit Scholz` Wende nach Putins Krieg gegen die Ukraine verschwunden sind.
Seit Jahrzehnten fordern die USA mehr Verteidigungsbereitschaft Deutschlands. Unter Kanzler Olaf Scholz wird das Land nun seiner Verantwortung in Europa gerecht. Der schwierigste Part wird sein, die langfristige strategische Veränderung zu gestalten.

Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine scheint die Zeit im Eiltempo zu vergehen: Jeder Tag bringt neue Schreckensnachrichten über die Realität des Krieges vor Ort – mit Fotos und Videos tapferer Ukrainerinnen und Ukrainer, die um ihr Leben und für ihr Land kämpfen. Bei ihrer Reaktion auf diesen Krieg waren sich die EU und die Vereinigten Staaten weitgehend einig: Sie verhängten strenge Sanktionen gegen Russland. Sie ließen den russischen Rubel einbrechen, schlossen Russland vom weltweiten Bankensystem aus und machten das Land zu einem weltweit geächteten Staat. Die NATO-Länder haben Verteidigungswaffen an die Ukraine geliefert und erstmals in der Geschichte die Reaktionsstreitmacht des Bündnisses für einen kollektiven Sicherheitseinsatz aktiviert. Die überraschendste Entwicklung bei den transatlantischen Verbündeten ist allerdings Deutschlands außenpolitische 180-Grad-Wende innerhalb weniger Tage.

Auf beiden Seiten des Atlantiks war das Erstaunen groß, als der deutsche Kanzler Olaf Scholz erst den Zertifizierungsprozess von Nord Stream 2 abbrach und ankündigte, Deutschland werde 1 000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Luftabwehrraketen an die Ukraine liefern, und schließlich im Bundestag weitere deutsche Schritte verkündete. Dazu gehören der Kauf von F-35-Kampfflugzeugen und das Versprechen, ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro in der Verfassung zu verankern und das von der NATO festgelegte jährliche Ausgabenziel zu übertreffen. Scholz’ Rede wäre vor einer Woche eine Überraschung und vor nur einem Monat absolut undenkbar gewesen.

Deutschland bereit als Führungsmacht Europas

Der Schock hinter der deutschen Kehrtwende ist vielschichtig und es lässt sich nur schwer beschreiben, was genau dahinter steckt. Russland dabei zuzuschauen, wie es seinen direkten Nachbarn überfällt, war natürlich ein Weckruf, aber trotzdem ging die Reaktion über alles hinaus, was die meisten – insbesondere die Vereinigten Staaten – von Berlin erwartet hätten. Es scheint, dass Deutschland noch weiter geht, als lediglich mehr für Verteidigung auszugeben und sein Militär nach Jahrzehnten der Vernachlässigung und mangelnden Investitionen in Bereitschaft zu versetzen. Es sieht so aus, als stünde das Land an der Schwelle zu etwas noch Wichtigerem: einer grundlegenden Änderung seiner Einstellung. Tatsächlich werden die Waffenexporte und die Investitionen in die Streitkräfte laut einer Blitzumfrage von 78 Prozent der Deutschen unterstützt. Obwohl es für ein abschließendes Urteil zu früh ist, scheint es, dass das Land endlich bereit ist, seinen Platz als rechtmäßige Führungsmacht innerhalb der europäischen Verteidigung zu akzeptieren.

Bis jetzt hat Deutschlands Zurückhaltung, diese Führungsrolle zu übernehmen, auf beiden Seiten des Atlantiks für Unmut gesorgt. Wie sich alle erinnern, war es ein entscheidendes Merkmal der Trump-Regierung, Deutschland ständig dafür zu kritisieren, nicht genug für seinen Verteidigungshaushalt auszugeben. Aber Trump war nicht der erste Präsident, der dies ansprach. Er sagte es lediglich lauter und schärfer als die meisten anderen.

Berlin bricht mit den letzten 30 Jahren

Was die Menschen allerdings zu vergessen scheinen, ist, dass mehr Geld für Verteidigungszwecke nicht einfach aus dem Nichts entsteht. Eine solche Politik muss von der Öffentlichkeit unterstützt werden, sonst setzen die Politiker ihre Zukunft aufs Spiel. In Deutschland gab es bisher einfach nicht genug öffentliche Unterstützung für mehr Rüstungsausgaben, also konnte kein Kanzler rechtfertigen, dieses Thema in sein Programm zu übernehmen. Obwohl Pazifismus und Kriegsschuld der Deutschen ein Teil des Problems waren, ging die Zurückhaltung noch tiefer: Sie reichte bis zum Kern dessen, wie sich Deutschland insgesamt als Mitglied Europas und der weltweiten Gemeinschaft sieht. Die Deutschen haben kein größeres Verteidigungsbudget unterstützt, weil sie Deutschland einfach nicht als Land betrachtet haben, das diese Rolle übernehmen sollte.

Obwohl Deutschland ein besonders krasses Beispiel ist, fehlte es auch Europa insgesamt an Investitionsbereitschaft – und an Interesse, sich der Herausforderung zu stellen. Wie Ivan Krastev für die New York Times schrieb: „In den letzten 30 Jahren haben sich die Europäer selbst davon überzeugt, dass militärische Stärke ihren Preis nicht wert sei und die militärische Vorherrschaft Amerikas genug sei, andere Länder davon abzuhalten, Krieg zu führen.“ Die letzten zwei Wochen haben jedoch alles verändert. Die Idee, auf dem europäischen Kontinent werde es nie wieder Krieg geben, hat sich in Luft aufgelöst. Obwohl die NATO nicht plant, sich vor Ort militärisch zu beteiligen, müssen sich die Europäer der Herausforderung stellen und bereit sein, die Demokratie, die sie so schätzen, zu verteidigen. Sie müssen damit anfangen, die Verteidigung ernster zu nehmen.

Der schwierigste Teil für Scholz kommt noch

Die Entscheidungen von Kanzler Scholz sind eine willkommene politische Wende, aber der schwierige Teil folgt erst noch. Es fällt leicht, die Notwendigkeit zu spüren, „etwas zu tun“, wenn man einem Diktator dabei zuzuschaut, wie er Panzer in ein souveränes Staatsgebiet schickt und unschuldige Zivilisten bombardiert. Dies könnte erklären, warum die deutsche Öffentlichkeit eine entschiedenere Reaktion unterstützt. Viel schwerer ist es allerdings, einen bestimmten Moment zu nutzen, um ihn in eine langfristige strategische Veränderung zu verwandeln. Genau das muss Kanzler Scholz aber als nächstes tun.

Scholz muss das Versprechen seiner Koalition erfüllen, Europas strategische Unabhängigkeit zu vergrößern. Dies war von Anfang an ein schwieriges Ziel, aber dieser Moment darf nicht vertan werden. Bis jetzt wurde die Vision eines unabhängigeren Europas vor allem vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vertreten. Auch Scholz muss sich dieser Vision zukünftig anschließen. Die Teile des Puzzles liegen jetzt alle auf dem Tisch. Scholz muss sie nur noch zusammenfügen. Treffenderweise lautete die Überschrift des Koalitionsvertrags der neuen deutschen Regierung „Mehr Fortschritt wagen“. Der Moment für mehr Fortschritt ist nun gekommen.

Dieser Text erschien zuerst auf ipg-journal.de

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Kommentare

ob das, also

das Übertreffen der Erwartungen der USA- so gut ist, wie es der Artikel suggeriert- das wage ich zu bezweifeln. Ich würde eher das gegenteilige annehmen. Wenn bei Rüstung mehr getan wird als vom Rüstungsweltmeister erwartet, dann ist "Landunter", wie man hier sagt

Ein Sozialdemokrat

Wo der Säbel regiert ist für Bildung kein Platz (August Bebel).
Ich kann erhöhte "Verteidugungsausgaben" keineswegs als Beitraag zum Frieden ansehen, da bin ich der >150jährigen Tradition der deutschen Sozialdemokratie verhaftet. In en Augen der USAHerrschenden Klassenbester sein zu wollen ist für mich auch nicht erstrebenswert.

„Erwartungen der USA“

„Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten“, sagt Mephistopheles, der menschelnde Teufel, das personifizierte Böse.

Rachel Rizzo kann „Deutschlands außenpolitische 180-Grad-Wende“ noch gar nicht „genau“ erfassen, macht sie aber vor allem an „mehr Verteidigungsbereitschaft Deutschlands“ fest. In der Sprache unserer Politiker heißt das konkreter: „investieren in unsere Sicherheit“ (Lindner), wodurch wir einen „Schritt vorangehen“ auf den Tarnkappenbomber F-35 zu (Lambrecht), der uns „Nukleare Beteiligung“ ermöglicht (Scholz). „Nukleare Beteiligung“ ist ein Programm der USA, das (z. B.) der Bundeswehr unter bestimmten Bedingungen die Nutzung von bei uns gelagerten US-Atomwaffen erlaubt – so weit, so unklar.

Die USA lagert in Deutschland B-61 Atombomben (in der taktischen Variante), d. h. sie sind kleine Bombe: Klein ist ihre Zerstörungswirkung (0,3 – 170 KT.), klein ihr Einsatzradius (etwa 1000 km beim F-35), klein der Konflikt, in dem sie eingesetzt werden kann. Eine F-35 könnte von (z. B.) Köln aus bis nach Warschau oder nach Brest mindestens zwei B-61 abwerfen, jede mit einer Sprengkraft von 45KT, was etwa vier Hiroshima-Bomben entspricht.

„Erwartungen der USA“_2

Sollte uns die Russische Föderation demnächst angreifen wollen – und sonst käme ja niemand infrage, wird sie versuchen, unsere Soldaten durch zwei drei Kurzstreckenraketen abzuschrecken. (Die taktischen Atomwaffen wurden ja entwickelt, weil USA und UDSSR einen begrenzten Atomkrieg führbar machen wollten – bei strategischen Waffen geht das nicht, weil deren Einsatz die Erde unbewohnbar zerstören würde: So widersinnig ist die Abschreckungsidee.) Wir werden dann zwei F-35 Überschallbomber mit je zwei B-61, also mit 16 Hiroshimabomben-Sprengkraft, losschicken. Dann schießen die Russen ... Danach hätten Worte keinen Sinn mehr in Mitteleuropa, weder die unserer Politiker, noch die der trefflichen Analyse von Frau Rizzo; die Unterschiede von Krieg und Kriegsverbrechen gegen die Bevölkerung wären verschwunden, wie auch Verweise auf Grundgesetz, Völkerrecht oder Menschlichkeit – nur noch das Wort Krieg behielt seine immanente Bedeutung.

Was folgt daraus?!

Was?

Deutschland - „rechtmäßige (?) Führungsmacht“

„Es scheint, dass Deutschland endlich bereit ist, seinen Platz als rechtmäßige Führungsmacht innerhalb der europäischen Verteidigung zu akzeptieren“; es nicht sein zu wollen, hatte bisher „auf beiden Seiten des Atlantiks für Unmut gesorgt“. Aus USA-Sicht mag das so aussehen. In Europa, denke ich, ist das anders.

Polen würde gern „ein deutsch-polnisches Sicherheitstandem“ bilden, während die baltischen Länder beiden nur trauen, wenn gleichzeitig der „französisch-deutsche EU-Motor auf Drehzahl“ gebracht wird. Frankreich bildete gern mit Deutschland ein „effizientes und ausgewogenes Tandem gleicher Ziele für ein Europa der Verteidigung“, müsste aber sicher sein können, „dass ein militärisch stärkeres Deutschland (nicht) die Kontrolle über Europas Verteidigungspolitik übernehmen möchte“. Die nordischen Länder, Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden, loben die Kurskorrektur von Olaf Scholz, stehen aber nicht auf einer „rechtmäßigen Führungsmacht“ für Europa, machen nicht einmal Anstalten die „Verteidigungshaushalte massiv aufzustocken“.

Deutschland - „rechtmäßige (?) Führungsmacht“_2

Britannien sollte man mit einem solchen Ansinnen erst gar nicht kommen. Und Italien, Griechenland – was halten die von einer „rechtmäßigen“ deutschen Führungsmacht? Oder Holland, Belgien, Luxemburg?

Führungsmacht, zudem „rechtmäßige“, erinnert an Führungsprinzip, an Führer und Gefolgschaft - man kann wohl nur als Analytiker unbefangen sowas postulieren. Und demokratisch klingt das auch nicht.

Eine Bundesrepublik, deren Wirtschaftskraft überragend ist, die auch noch die größte Militärmacht wäre und daraus einen Führungsanspruch ableitete, will in der EU - zu Recht- niemand; wir sollten diese Rolle auf keinen Fall anstreben, nicht einmal annehmen.