
Frau Rawert, Sie haben am Sonntag für den Europarat den Ablauf des Referendums in der Türkei beobachtet. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
Ich konnte den Ablauf in 14 Wahllokalen in und um Ankara beobachten und war bei der Auszählung der Stimmen in einem Wahllokal dabei. Vom technischen Prozedere her konnte ich keine Unregelmäßigkeiten feststellen. Was ich mit eigenen Augen gesehen habe, lief regelkonform und transparent ab. Der einzige offenkundige Verstoß war ein 30 Meter vor einem Wahllokal hängendes „Evet“-Plakat (Evet für Ja – Kampagne der Reform-Unterstützer). Wir haben das moniert und es wurde sich umgehend darum gekümmert.
Am Montag schrieben Sie auf Facebook: „Beim Referendum hat es keine gleichen Chancen für die Ja und Nein Abstimmer*innen gegeben“. Wie meinen Sie das?
Die Wahlen haben unter dem in der Türkei geltenden Ausnahmezustand stattgefunden. Ich habe auf dem Weg durch die Stadt ein einziges „Hayir“-Plakat (Hayir hieß die Kampagne der Reformgegner) gesehen, ansonsten nur „Evet“-Plakate. Den Reformgegnern waren Versammlungen verboten, die Möglichkeiten zur Information über die vorgesehenen Verfassungsänderungen waren stark eingeschränkt – gerade in den Medien. Zudem gab es Vermischungen zwischen öffentlichem Amt und Parteizugehörigkeit, finanziell war die Kampagne gegen das Referendum stark benachteiligt. Chancengleichheit sieht anders aus.
Anders als die OSZE in ihrem Bericht zum Referendum kritisierten Beobachter das Vorgehen der Wahlbehörden, auch ungestempelte Wahlumschläge anzuerkennen. Zu Recht?
Ich kann nur das bewerten, was ich tatsächlich gesehen habe. Das war soweit in Ordnung. Die Entscheidung, auch ungestempelte Wahlumschläge als gültig anzuerkennen, hat aber auch uns Beobachter aufgeregt und für heftige politische Diskussionen gesorgt. Damit bietet man die Möglichkeit, Wahlzettel auszutauschen. Entsprechende Videos kursieren im Internet. Ob sie authentisch sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Fakt ist, dass einzelne Beobachter große Probleme hatten, ihre Aufgabe wahrzunehmen.
Inwiefern?
Zwei Kollegen waren am Sonntag in Diyarbakır, um dort den Ablauf der Abstimmung zu überwachen. Sie wurden bis zum Mittag von der Polizei am Betreten der Wahllokale gehindert und hatten zudem den Anblick der Leichen mehrerer Menschen zu verarbeiten, die vermutlich im politischen Streit aufeinander losgegangen waren. Ihr Urteil über den Ablauf des Referendums ist naturgemäß ein anderes.
Wie bewerten Sie den Ausgang des Referendums: Ist das knappe Ergebnis tatsächlich ein Sieg für den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan?
Von einem Sieg würde ich nicht sprechen. Das Ergebnis ist sehr ausgeglichen, ohne die Stimmen der Auslandstürken erst recht. Das türkische Volk ist ganz offensichtlich gespalten in der Frage, ob es in einem Präsidialsystem leben möchte. Erdoğan sollte jetzt nicht so tun und handeln, als hätte er die klare Mehrheit der Türken auf seiner Seite.
Wie sollte Europa, wie sollte Deutschland künftig mit der Türkei umgehen?
Ich halte überhaupt nichts davon, jetzt den Kontakt zur Türkei abzubrechen – das betrifft auch die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei. Wir müssen den Dialog aufrechterhalten, auch wenn es schwerfällt. Kappen wir jetzt die Beziehungen, lassen wir damit die knapp 50 Prozent der türkischen Wähler alleine, die mit Nein gestimmt haben.
Was bedeutet der Ausgang des Referendums für Deniz Yücel und alle anderen inhaftierten Journalisten und Kritiker Erdoğans?
Die Politik ihnen gegenüber wird sich mit Sicherheit nicht lockern. Auch deshalb sollten wir auf den Dialog setzen und eben nicht den Kontakt abbrechen.