Damals war allein die Tatsache, dass Politiker und Intellektuelle aus Ost und West miteinander diskutierten, ein riskantes Unterfangen. Die daran beteiligten Mitglieder der SPD-Grundwertekommission unter dem Vorsitz von Erhard Eppler erlebten massive Kritik nicht nur von den Konservativen, sondern auch aus den eigenen Reihen. Die SED-Leute von der Akademie der Wissenschaften standen unter Beobachtung von Politbüro und ZK.
Sozialdemokraten und Kommunisten an einem Tisch
Alles begann an einem trüben Februartag des Jahres 1984 am Scharmützelsee in der Mark Brandenburg. Dort trafen sich zum ersten Mal seit 1919 Sozialdemokraten und Kommunisten, um – wie das später von einem der Initiatoren etwas pathetisch formuliert wurde - „Menschheitsfragen ergebnisoffen zu diskutieren.“ Der Vorschlag zu diesen halboffiziellen Gesprächen war von einem Wissenschaftler der DDR gekommen, den Eppler seit den sechziger Jahren kannte. Das SPD-Präsidium hatte das Für und Wider eher skeptisch diskutiert, doch dann bekam die Grundwertekommission grünes Licht. Jede Seite stellte ein Team aus acht Leuten zusammen. Man traf sich zunächst ohne große Erwartungen, erinnerte sich Erhard Eppler später.
Bis zum April 1989 gab es zwischen den ungleichen Partnern aus Wissenschaft und Politik insgesamt sieben jeweils mehrtägige Zusammenkünfte, abwechselnd in der Fritz-Erler-Akademie in Freudenstadt im Schwarzwald und in der Seenlandschaft Brandenburgs. Erhard Eppler sprach später von „Begegnungen, die reich waren an Dissonanzen, aber auch an Erkenntnissen über den jeweils anderen. Es ging nicht darum, die andere Seite zu überzeugen, sondern sie zu verstehen.“
Heftige Diskussionen im Politbüro
Erst im Laufe der Zeit entstand die Idee eines gemeinsamen Papiers. Zunächst war nur geplant gewesen, möglichst offen miteinander zu reden. Monatelang wurde dann an einem Text gearbeitet, der später für so viel politischen Wirbel sorgen sollte. Es ging darum „herauszufinden, was angesichts konträrer Ideologien – die dem jeweils anderen ja sogar die Existenzberechtigung absprachen – dennoch an Gemeinsamkeiten möglich sein könnte“, so Eppler. Anfang 1987 war das Dokument fertig, musste sowohl vom Politbüro in Ostberlin als auch von Vorstand und Präsidium der SPD abgesegnet werden.
Nach heftigen Diskussionen sowohl im Politbüro als auch in den Spitzengremien der SPD wurde der gemeinsame Text mit dem Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ in Bonn und Ostberlin vorgestellt und im „Neuen Deutschland“ veröffentlicht. Bürgerrechtler und kritische Kirchenleute in der DDR waren elektrisiert, konnten sie sich doch in Zukunft bei politischen Auseinandersetzungen auf einen Text berufen, der den Segen des Politbüros bekommen hatte. Die Zeit ist längst über dieses SPD-SED-Papier hinweggegangen, und es fällt heute schwer, sich hineinzuversetzen in die späten achtziger Jahre, als es solchen Wirbel gemacht hat. Einige Zitate:
Weltgeschichtliche Situation
„Unsere weltgeschichtliche Situation besteht darin, dass die Menschheit nur noch gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen kann.“
„Die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Misserfolge, Vorzüge und Nachteile muss innerhalb jedes Systems möglich sein.“
„Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen. Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, dass ein System das andere abschafft.“
In der Rückschau lässt sich vermuten, dass dies der Anfang vom Ende der DDR war. „Die Menschen verloren allmählich die Angst vor der Stasi“, beobachtete Erhard Eppler. Und Jürgen Schmude, DDR-Kenner, Kirchenmann und Bundesjustizminister im Kabinett von Helmut Schmidt, hat später geschrieben: „Eppler hat mit dem gemeinsamen Papier einen zweijährigen Prozess der inneren Destabilisierung der DDR herbeigeführt.“
Anfang vom Ende der DDR
Die konservative Kritik an dem Papier wirkte damals schon verlogen. Dem Kommunismus sei in dem Dokument eine Existenzberechtigung zugesprochen worden, die man nicht dulden könne und der Marxismus-Leninismus werde ernster genommen als ihm zustehe, hieß es beispielsweise. Was die Kritiker nicht erwähnten, war, mit welchen Ehren Erich Honecker genau in diesem Jahr 1987 in Bonn empfangen worden war: Es wehte die DDR-Fahne, es wurden die Hymnen beider Staaten gespielt! Zwei Jahre später rostete der Eiserne Vorhang im gesamten Ostblock durch und die Welt war eine andere.