
Boris Johnson als Premierminister von Großbritannien – was bedeutet das für den Brexit und Europa?
Boris Johnson ist ein Wendehals, dem traue ich alles zu. Es könnte sein, dass er in Brüssel die ergänzende politische Erklärung zum Austrittsvertrag verändert und dann mit großem politischen Theater in Großbritannien versucht, den bestehenden Vertrag durch das britische Parlament zu bekommen.
Ein harter Brexit ist also nicht unbedingt ausgemacht?
Ich traue ihm beides zu. Er könnte sich als großer politischer Kämpfer profilieren, die politische Erklärung ist aber nicht rechtsverbindlich. So wie ich Boris Johnson erlebt habe, ist er auch fähig, eine 180-Grad-Wende zu vollziehen und noch als Erfolg zu verkaufen. Das Kabinett ist aber schon ein politisches Signal, das aus vielen Hardlinern besteht.
Trotzdem: Was würde ein harter Brexit für Europa bedeuten?
Ökonomisch wäre es eine Katastrophe, auch für die Menschen direkt. Dann hätten wir nur noch das reguläre WTO-Recht, alle Produkte müssten kontrolliert werden, wir würden Zölle gegenüber Großbritannien erheben, Standards und Zulassungen aus Großbritannien würden nicht mehr anerkannt. Das ist im Grunde unvorstellbar: Wenn jeder Lkw am Kanal zwei Minuten kontrolliert werden würde, würde das 27 Kilometer Stau hervorrufen. Wir sind eben so eng miteinander verbunden.
Wären bestimmte Bereiche der deutschen Wirtschaft besonders von einem harten Brexit betroffen?
Das lässt sich kaum eingrenzen. Deutschland und Großbritannien sind zwei stark verwobene Volkswirtschaften. Klar, die Automobilindustrie wäre stark betroffen, aber auch Medikamente sind ein völlig integrierter Markt, Agrar und viele andere Bereiche. Überall werden Vorprodukte in dem einen Land hergestellt und dann im Nachbarland zusammengesetzt und wieder zurücktransportiert. Ich glaube, es gibt keinen Sektor, der einen harten Brexit unbeschadet überstehen würde.
Ist es dann überhaupt möglich, sich auf einen harten Ausstieg vorzubereiten?
Wir haben rund 20 Gesetzgebungen auf den Weg gebracht, die zumindest den schlimmsten Verwerfungen Luft verschaffen würden. Zum Beispiel bei der Zulassung von Autos, damit in Großbritannien erteilte Zulassungen in Europa nicht ihre Gültigkeit verlieren. Skoda wäre davon zum Beispiel betroffen. Das gilt aber auch für Medikamente für den europäischen Markt oder die Finanzierung von Unternehmen bei britischen Banken.
Es würde also von heute auf morgen nicht alles stillstehen?
Nein, aber die Zölle und die Kontrollen würden wir nicht wegbekommen, da gibt es eine klare WTO-Verpflichtung. Aber wir hätten zumindest eine gewisse Übergangszeit. Nach einem harten Brexit müssten wir aber sofort über einen Handelsvertag und andere Dinge verhandeln, um für die Zeit danach klare Regelungen zu finden.
Das klingt dann aber nach einem Gesetzes-Klein-Klein.
Natürlich! Wir haben ja auch mit den USA über 35 verschiedene Verträge, mit der Schweiz über 100. Außerdem würden auch Bedingungen zur Freizügigkeit der EU-Bürger und finanzielle Verpflichtungen nicht mehr gelten. Bei Mini in Großbritannien arbeiten 1200 Kollegen aus Kontinentaleuropa, was passiert mit denen? An solchen Stellen sind Menschen dann direkt betroffen.
Nach der Brexit-Volksabstimmung ging die Angst einer Austrittswelle in der EU um – gibt es diese Befürchtung weiterhin?
Das ist vermutlich das einzig Positive daran. Innerhalb der Europäischen Union stellen wir fest, dass die Brexit-Debatte dazu geführt hat, dass man wieder aufeinenader zugeht. Parteien wie die Fidesz-Partei in Ungarn sind stark europakritisch eingestellt, aber die formulieren eher, dass sie Europa umgestalten wollen. Die einzige rechtspopulistische Partei, die noch eine solche Aussage im Programm stehen hat, ist die AfD in Deutschland. Der Brexit hat die europäische Integration gestärkt.
Ist in Großbritannien noch eine zweite Volksbefragung zum Brexit denkbar?
Es gibt im August noch Nachwahlen für zwei Sitze, da könnte die Mehrheit der Tories noch dünner werden. Es kann sein, dass Labour dann versucht, ein Misstrauensvotum zu lancieren, dann sind sogar Neuwahlen denkbar. Ein neues Referendum dürfte Johnson aus freien Stücken aber nicht ins Spiel bringen. Im Herbst ist noch viel Musik drin.