
Die AfD hat am Wochenende einen „Russlandkongress“ in Magdeburg veranstaltet. Wenig überraschend schlugen sich die Redner auf die Seite Russlands, doch auch rechtsradikale Ansichten wurden geäußert. Herr Geidel, Sie selbst kommen aus der russlanddeutschen Gemeinde und kandidieren für die SPD als Bundestagskandidat in Berlin. Was haben Sie sich gedacht, als Sie von dem „Russlandkongress“ gehört haben?
Die AfD verfolgt die Strategie, Russlanddeutsche anzusprechen, weil sie in ihnen ihr Klientel sieht. Es gibt schließlich das weitverbreitete Bild, dass Russlanddeutsche rechts sind und etwas gegen Ausländer und Schwule haben. Verstärkt wird dieser Eindruck von der Presse, die aus Russland gesteuert wird – zum Beispiel Sputnik oder RT Deutschland. Doch die AfD unterliegt einem Irrtum. Die große Mehrheit der Menschen entspricht nicht diesem Bild.
In der Öffentlichkeit entsteht trotzdem der Eindruck, dass AfD und Russlanddeutsche auf derselben Seite stehen.
Ich sehe die große Gefahr, dass wir in diese Ecke gedrängt werden – AfD-Anhänger, rechtskonservativ, putinhörig und homophob. Leider werden die vielen Menschen nicht gesehen, die sich gut integriert haben, die gute Bildungsabschlüsse haben und die sich für die freiheitlich-demokratische Ordnung einsetzen. Wir haben auch keine starken Institutionen und Verbände, die für uns sprechen. Ein wesentlicher Teil meiner politischen Arbeit besteht deswegen darin, aufzuzeigen, dass nicht alle Russlanddeutschen rechtskonservativ sind. Ich betone immer wieder, dass sich 2015 auch Russlanddeutsche beteiligt haben, Turnhallen für Flüchtlinge in Berlin herzurichten. Es ist nicht so, dass damals alle nur auf einer Seite zu finden waren.
Hierzulande leben knapp drei Millionen Menschen, deren Wurzeln in den ehemaligen Sowjetrepubliken liegen. Die Mehrheit kam in den 1990er-Jahren nach Deutschland. Seitdem ist es still um sie geworden. Hat die Politik sie vernachlässigt?
Das beruht auf Gegenseitigkeit. Die Russlanddeutschen haben sich viel zu wenig in Politik und Gesellschaft eingemischt. Nach ihrer Ankunft in Deutschland war das Hauptziel, die Sprache zu lernen, Arbeit zu finden und den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Alles andere musste zurückstehen. Gleichzeitig haben alle Parteien es versäumt, Russlanddeutsche gezielt und themengerecht anzusprechen. Die AfD probiert es, doch nicht mit den Themen, die für sie wichtig sind.
Welche Themen sind das?
Eine zentrale Rolle spielt die soziale Gerechtigkeit. Die Russlanddeutschen legen – mit Blick auf ihre sowjetische Vergangenheit – Wert auf einen starken Sozialstaat, der Renten zahlt, der Schulen und Krankenhäuser gut ausstattet. Sie sehen kein Problem darin, dass dafür Reiche zur Kasse gebeten werden sollen. Als Sozialdemokraten haben wir mit unseren Themen eigentlich einen guten Zugang, um bei ihnen auf Resonanz zu stoßen.
Sie kandidieren im Berliner Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf, wo viele Russlanddeutsche leben. Was beschäftigt diese Menschen?
Es gibt spezielle Themen, die daher herrühren, dass alle ihre Wurzeln in der Sowjetunion haben. Die Anerkennung von Berufsabschlüssen ist ein Problem. Das gilt genauso für Rentenansprüche. Ein Thema ist auch der Familiennachzug. Wenn beispielsweise die Eltern, die in Russland leben, pflegebedürftig werden, ist es ausgesprochen schwierig, sie nach Deutschland zu holen. Als Alternative bleibt dann nur, nach Russland zurückzugehen. Das ist ein enormes soziales Problem, das auch zu Neid gegenüber Flüchtlingen führt.
Dmitri Geidel ist Direktkandidat für den Bundestag im Wahlkreis 85 Marzahn-Hellersdorf. Seine Mutter stammt aus Russland, sein Vater ist Deutscher. Der 27-Jährige ist seit 2006 SPD-Mitglied. Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist Geidel stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion sowie stadtentwicklungspolitischer Sprecher.