
Heute vor 45 Jahren, am 25. April 1974, begann in Portugal die Nelkenrevolution. Die Diktatur, die das Land Jahrzehnte lang in seinem festen Griff hielt, wurde gestürzt. Junge Offiziere putschten seit dem frühen Morgen gegen das Regime, besetzten wichtige Einrichtungen im Land und zwangen den damaligen Regierungschef Caetano zum Rücktritt. Vielerorts strömte die Bevölkerung jubelnd auf die Straßen. Nelken wurden als Zeichen der friedlichen Revolution den Soldaten in die Gewehrläufe gesteckt.
Willy Brandt überbrachte Mário Soares die Nachricht
Zum Zeitpunkt des Putsches hielt sich der Vorsitzende der portugiesischen Sozialisten, Mário Soares, gerade in Bonn auf, wo er mit der SPD in Kontakt war und über den Regimewandel diskutierte, der in Portugal in Gange war. Entgegen allen Vorhersagen, dass Spanien als erstes Land zur Demokratie zurückkehren würde, hatte die Nelkenrevolution begonnen, und es war Willy Brandt, der Soares die Neuigkeit überbrachte.
In den Wochen und Monaten darauf waren es die portugiesischen Sozialisten unter der Führung von Mário Soares, die sich in den Wirren des Umbruchs unbeirrt für den Weg der Freiheit und der Demokratie eingesetzt haben. Gegen Widerstände von rechts wie von links. Unterstützung erhielt die Partido Socialista dabei auch von Willy Brandt und der SPD, die mit den portugiesischen Sozialisten seit deren Gründung im deutschen Exil freundschaftlich verbunden waren.
Portugals Rückkehr in die Gemeinschaft der Demokratien
Für Mário Soares und die Mehrheit der Portugiesen war klar, dass Portugals Zukunft in Europa liegt. Mit dem Slogan „Europa ist mit uns“ gewannen die Sozialisten 1976 die ersten demokratischen Parlamentswahlen und leiteten Portugals Rückkehr in die Gemeinschaft europäischer Demokratien ein. So erinnern wir uns heute an einen historischen Tag für Portugal und für ganz Europa. Die Menschen in Portugal streiften die Ketten der Diktatur ab. Freiheit wählten sie an Stelle von Unfreiheit. Gerechtigkeit an Stelle von Ungerechtigkeit. Und europäische Solidarität an Stelle von nationalistischer Isolierung.
Was in Portugal begann, war für andere Vorbild: 1974 wurden die Obristen in Griechenland, 1975 die Frankisten in Spanien gestürzt. Eine neue Ära der Freiheit und Demokratie war auf unserem europäischen Kontinent eingeläutet. Europa war für viele das Versprechen nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Europa bedeutete, Teil einer großen demokratischen Gemeinschaft zu sein, die solidarisch für einander eintritt und die zusammen die Zukunft zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger gestaltet. Miteinander haben wir es seitdem geschafft, den Frieden zu sichern und die Spaltung Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu überwinden. Wir haben die Binnengrenzen eingerissen, die Demokratie vorangebracht und Wohlstand für viele gemehrt.
Europa tritt auf der Stelle
Heute scheint das europäische Versprechen zu verblassen. Krisen haben das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Europa erschüttert. Großbritannien will die EU verlassen. Und Populisten und Nationalisten wollen Europa spalten und das Rad der Geschichte zurückdrehen. Als ob Nationalismus diesem Kontinent je gutgetan hätte. Als ob in einer globalisierten Welt ein Land allein die Herausforderungen überwinden könnte, die sich durch Fragen wie Klimawandel, Terrorismus, Frieden und Sicherheit, künstliche Intelligenz oder Migration stellen.
Und bei alldem tritt Europa auf der Stelle. In 15 Jahren konservativer Führung an der Spitze der Europäischen Kommission und des Rates haben gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa oft das Nachsehen gehabt. Große Konzerne können immense Gewinne abschöpfen, ohne einen fairen Anteil an Steuern zu zahlen. Und verpasster Ehrgeiz beim Umwelt- und Klimaschutz bedeutet, dass die Folgen zunehmend die Bürgerinnen und Bürger belasten.
Europa kann es sich nicht leisten, dass Halbherzige und Zögerliche weiter die Richtung vorgeben. Für viele Konservative und Liberale ist Europa nur noch ein Lippenbekenntnis. Europa ist für sie nur ein Wirtschaftsraum. Einige verdingen sich sogar als Steigbügelhalter europafeindlicher und rechtspopulistischer Parteien.
Das europäische Versprechen erneuern
So darf es nicht weitergehen. Es ist Zeit, dass wir das europäische Versprechen erneuern. Die Bürgerinnen und Bürger sollen wieder Europa als Sehnsuchtsort für eine bessere Zukunft für sich selbst und ihre Kinder wahrnehmen. Das wollen wir anpacken: Mit einem langfristigen Investitionsplan für Arbeit und Innovation. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa und unsere Wirtschaft wollen wir unterstützen, die Chancen der ökologischen Wende, der digitalen Revolution und dem Wachstum der künstlichen Intelligenz zu nutzen. Wir wollen deutlich mehr in Forschung, Fortbildung und sichere Jobs investieren. Das muss sich im kommenden mehrjährigen Finanzrahmen wiederfinden.
Und wir wollen Arbeiter und Angestellte schützen: Arbeitsrechte und Sozialstandards müssen in ganz Europa nach oben angeglichen werden, damit die Beschäftigten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dafür brauchen wir auch armutsfeste Mindestlöhne in allen EU-Staaten. Das Prinzip des gleichen Lohns für die gleiche Arbeit am gleichen Ort muss endlich umgesetzt werden. Schluss mit dem Lohndumping: wer sich nicht an die Regeln hält, muss sanktioniert werden. Und auch Schluss mit dem Wettlauf um die niedrigsten Unternehmenssteuern zwischen den Mitgliedsstaaten: Wir wollen eine Mindestbesteuerung aller Unternehmen und eine Digitalsteuer, damit alle einen fairen Anteil für die solidarische Gesellschaft leisten. Dies ist zentral für Zusammenhalt und Gerechtigkeit in der EU.
Eine Allianz aller fortschrittlichen Europäerinnen und Europäer
Statt Halbherzigkeit braucht es nun mutige Entscheidungen und entschlossenes Handeln in Europa. Wir Sozialdemokraten und Sozialisten sind davon überzeugt, dass nur ein starkes, solidarisches und geeintes Europa eine freiheitliche, gerechte und nachhaltige Politik für die Menschen in Portugal, in Deutschland und in der ganzen EU gewährleisten kann. Wir wollen eine Allianz aller fortschrittlichen Europäerinnen und Europäer. Wir reichen die Hand all denen, die mit uns zusammen Europa stärken und gegen die Ewiggestrigen verteidigen wollen.
Mit dieser neuen fortschrittlichen Mehrheit wollen wir in Europa mehr Gerechtigkeit und Solidarität, mehr Wachstum und bessere Arbeitsplätze, mehr Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz erreichen. Wir müssen auf dem globalen Markt wettbewerbsfähiger werden, aber auch den inneren Zusammenhalt durch eine bessere Koordination unserer Wirtschafts- Sozial- und Umweltpolitik stärken.
Vor 45 Jahren haben uns die Menschen in Portugal deutlich gemacht, welche Errungenschaft das gemeinsame Europa von Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit für uns alle ist. Dieses Versprechen wollen wir erneuern. Zum Wohle der Menschen in Portugal, Deutschland und in ganz Europa.