Geschichte

„Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“ – woher kommt der Ruf?

Der Spruch „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!“ ist auch bei linken Demonstrationen immer wieder zu hören. Geprägt wurde der Ruf allerdings schon im Kaiserreich, von rechten Antidemokrat*innen. Die Geschichte eines Kampfbegriffs
von Walter Mühlhausen · 16. Dezember 2021
„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ rufen Klimaaktivist*innen bei einer Demo im Oktober vor dem Willy-Brandt-Haus. Doch woher kommt dieser Propagandaruf, der vor allem von Antidemokrat*innen geprägt wurde?
„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ rufen Klimaaktivist*innen bei einer Demo im Oktober vor dem Willy-Brandt-Haus. Doch woher kommt dieser Propagandaruf, der vor allem von Antidemokrat*innen geprägt wurde?

„Ein Geschrei geht durch das Land: Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten“. So beginnt der „Vorwärts“-Redakteur Eugen Prager 1932 eine Broschüre, in der er sich mit dem Vorwurf auseinandersetzt, dass an „allem die Sozialdemokaten schuld“ seien – ein Vorwurf, den „die Nationalsozialisten und die Deutschnationen auf der einen, die Kommunisten, auf der anderen Seite“ stets von sich geben würden. Jüngst feierte der Zweizeiler seine Auferstehung bei den Demonstrationen von „Fridays for Future“, was mitunter mit Blick auf Entstehung und Tradition des Schlachtrufes scharf kritisiert worden ist. Andere verstanden die Aufregung so ganz und gar nicht, sei dies doch – so etwa die FAZ – lediglich „ein geflügeltes Wort der deutschen politischen Sprache und seit jeher für linke Kritik an der SPD gebräuchlich“, womit die „jungen Leute“ ein mit einer Prise Ironie gewürztes Geschichtsbewusstsein zeigen würden.

Schwere Anschuldigungen im Kaiserreich

Ganz so einfach ist das nicht, denn diese Verse galten nicht allein seit „jeher“ für linke Kritik an der SPD. Sie waren weit mehr. Der Verratsvorwurf kam im 1871 aus der Taufe gehobenen Deutschen Kaiserreich nicht von links, sondern eher schon von rechts, ja bis weit hinein aus der bürgerlichen Mitte: Sozialdemokrat*innen galten über die schändlichen Sozialistengesetze (1878–1890) hinaus als pestverdächtige Brunnenvergifter*innen des deutschen Wesens, als vaterlandslose Gesell*innen, gar als „Landesverräter“. Unter diesen Anschuldigungen wurden Arbeiter*innen auf die Straße gesetzt, Sozialdemokrat*innen des Ortes verwiesen oder ins Gefängnis gesteckt.

Die antidemokratische Rechte sah im November 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs, durch Revolution und Republikgründung nun das bestätigt, was sie seit den Anfangstagen des Kaiserreichs glauben wollte: Die verräterische Sozialdemokratie wurde verantwortlich gemacht für die Kriegsniederlage und den daraus resultierenden schmachvollen Versailler Vertrag. Die unselige Dolchstoßlüge wurde zum probaten Transporteur dieses Irrglaubens: Der von den Sozialdemokrat*innen angezettelte Verrat in der Heimat habe dem tapferen Soldaten das Weiterkämpfen unmöglich gemacht, schließlich das Reich um den sicher geglaubten Sieg gebracht.

Mehr als 200 Verleumdungsverfahren gegen Ebert

Diese Legende von der Heimtücke bildete den Nährboden für den Landesverratsvorwurf gegenüber dem ersten Reichspräsidenten, dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert, der 1924 in einem von mehr als 200 Verleumdungsverfahren tatsächlich juristisch bestätigt werden sollte: Ebert habe durch die Beteiligung an den großen Januar-Streiks 1918 Landesverrat begangen. Nicht nur der vormalige kaiserliche Heerführer Erich Ludendorff sah es nach dem Skandalurteil als erwiesen an, dass die Sozialdemokrat*innen „schuldig des Landesverrats und strafwürdige Verbrecher“ seien.

Eine andere Variante des Vorwurfs vom Verrat, nämlich der an den eigenen Interessen, kam zumeist von links, zunächst innerparteilich von revolutionären Kräften an der Parteiführung und nach der Spaltung der SPD 1917 von der USPD, einschließlich des Spartakusbundes, an der (M)SPD, den „Kaisertreuen“ oder „Regierungssozialisten“. Diese hätten sich mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten seit August 1914 und dem damit verbundenen Burgfrieden des Verrats an den Ideen und Idealen der Arbeiterbewegung schuldig gemacht. Noch schwerer wog das Handeln in der Revolutionszeit: Da habe man nicht entschieden genug eine Neuordnung verfolgt. Dies und die blutige Niederschlagung von linken Aufständen sei Verrat, ein schändlicher Vertrauensbruch.

„Die Nazis nehmen euch die Parolen weg“

Nach der Wiedervereinigung von SPD und (Rest-)USPD 1922 erscholl das Wort dann aus den Reihen der KPD, die erst 1920 durch den Anschluss der USPD-Linken zur Massenpartei geworden war. Dann weitete sich das Ganze auf die Extreme aus. Die Hitleriden nahmen Anleihe bei den Thälmännern. Der Verratsvorwurf war Dauergast in der politischen Auseinandersetzung, von der Straße bis in Parlamente. Im Oktober 1930 entwickelte sich im Reichstag ein Wettstreit der Sprechchöre, angefangen von den Nationalsozialist*innen, die lauthals vom Verrat der Sozialdemokrat*innen grölten, woraufhin die Sozialdemokrat*innen zu den Kommunist*innen meinten: „Die nehmen Euch die schönsten Parolen weg“.

So herausgefordert schleuderte ein Kommunist das bekannte Wort von den Sozialfaschist*innen in Richtung Sozialdemokrat*innen. Das setzte sich im lokalen Raum fort:  Als bei einem Berliner Gewerkschaftsfest 1931 die sozialistischen Gewerkschaften und befreundete Organisationen eine Motorbootparade auf der Spree veranstalteten, ertönte von den Kommunist*innen auf dem einen, von den Nationalsozialist*innen vom gegenüberliegenden Ufer „einträchtig“ (so der „Vorwärts“): „Wer hat uns verraten, die Sozialdemokraten“. Bei der Maidemonstration 1928 erschallte der Satz aus den Reihen kommunistischer Kinderorganisationen in Endlosschleife. Immer häufiger reichten sich „Hakenkreuz“ und „Sowjetstern“ verbal die Hand.

Verrat an einem Elfjährigen?

Nach 1945 machte der Publizist Sebastian Haffner in der ihm ureigenen Schärfe den Verratsvorwurf so richtig populär: Seine 1969 erstmals publizierte Studie „Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19“ hieß später kurz und knapp nur noch „Der Verrat“ (1993). In seiner als Lebenserinnerung annoncierten Schilderung der deutschen Geschichte von 1914 bis 1933 urteilte der früh gereifte Analytiker der Zeitgeschichte, das penetrante „Aroma von Verrat“, das den Sozialdemokrat*innen in der Revolution angehaftet habe, sei damals schon bis in die „Nasen der Zehnjährigen“ gedrungen – beachtliche Erkenntnisse, die zu der Frage führen, wo und warum sich der Elfjährige Haffner 1918/19 von den Sozialdemokrat*innen verraten fühlte. Die Verratsthese gehörte also nicht nur zum gängigen Topoi der DDR-Historiografie, sondern wurde über Haffner hinaus auch von der Linken im Westen rezitiert, vor allem durch die 68er und auch in deren Nachwehen, als die SPD mit Willy Brandt erstmals den Bundeskanzler stellte.

Angesichts der Griffigkeit der Zeilen ist es wenig erstaunlich, dass sie dann in Wellen eine Wiedergeburt nach der anderen erlebten, von Liedermacher*innen und Punks vertont, landauf, landab geträllert oder in Demonstrationszügen synchron zum Schritt angestimmt. So ist der Verratsvorwurf mittlerweile „ein beliebig variierbares Instrument“ in der politischen Auseinandersetzung, wie das Siegfried Heimann im Jahr 2000 einmal treffend formulierte.

Griff in die propagandistische Mottenkiste

Es verwundert daher nicht, dass auch „Fridays for Future“ in die propagandistische Mottenkiste griff, überwiegend wohl ohne Erinnerung daran, dass dies dereinst zum Vokabular der Demokratiegegner*innen von rechts und links gehörte und dass unter diesem Ruf die Nationalsozialist*innen die Verteidiger*innen der Republik (und auch die Kommunist*innen) in die KZs verschleppten. Nun – es gehört nicht unbedingt zum Credo der Demonstration der Straße, sich der historischen Bezugspunkte der benutzten einprägsamen Losungen bewusst zu sein.

Jedoch: Man täte gut daran, darüber einmal zu reflektieren. Trotz alledem: Es wäre nachgerade unhistorisch, dieses „Wer hat uns verraten…“ zur geflügelten Sentenz vom Schlage eines „Kräht der Hahn auf dem Mist…“ abzuwerten. Es war mehr. Und dessen sollten sich diejenigen immer bewusst sein, die in einem einhämmernden Rekapitulieren eines zuvorderst von Antidemokrat*innen gepflegten Leitspruchs den Kitt von Massenkundgebungen sehen.

Autor*in
Walter Mühlhausen

war Geschäftsführer und Mitglied des Vorstands der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg. Er lehrt als apl. Professor an der Technischen Universität Darmstadt.

1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Fr., 26.01.2024 - 14:16

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Was ist mit der Querfront von Ebert + Co. mit der obersten Heeresleitung ?, wer fühlte sich an daas Bielefelder Abkommen nicht gebunden ?
Und aktueller: Respekt für Dich